Politik/Ausland

Mehr Spielraum für die Islamisten

Er wolle „die Revolution retten“ und „das SchiffÄgypten durch die schwierige Übergangsphase leiten. Präsident Mohammed Mursi aber scheint im Moment das Gegenteil zu erreichen: Die Krise im Land am Nil spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu. Nachdem das Verfassungskomitee gestern in den frühen Morgenstunden nach 19 Stunden Verhandlung den umstrittenen Verfassungsentwurf durchgepeitscht hatte, versammelten sich wieder Tausende junge Ägypter und Oppositionelle am symbolträchtigen Tahrir-Platz.

Mursi hatte die Abstimmung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion um Wochen vorgezogen. Das Verfassungskomitee, dominiert von Mursis Muslimbrüdern und den Salafisten, hätte nämlich aufgelöst werden sollen. Einer entsprechenden Entscheidung der Verfassungsrichter kamen aber Mursis Mannen zuvor. Und der Entwurf wurde angenommen. Kein Wunder, hatten sich doch die liberalen und laizistischen Mitglieder des Gremiums für einen Boykott entschieden.

„Ungeschickt“

Nun wird Mursi den Entwurf schon heute, Samstag, ratifizieren. Nach der eigenmächtigen Ausweitung seiner Kompetenzen eine Woche zuvor sehen Mursis Kritiker ihre Befürchtung bestätigt, der Präsident wandle sich zum neuen Diktator. Mursi selbst rechtfertigte seine neue, umfassende Macht, mit der er seine Amtshandlungen gerichtlicher Kontrolle entzieht, damit, dass er in diesem „außergewöhnlichen Stadium“ Gefahren für Ägypten abwenden wolle. Darüber hinaus würden diese Dekrete wieder abgeschafft, sobald die Bevölkerung die neue Verfassung per Referendum angenommen habe. „Mursi sagte, den ganzen Prozess hin zu freien Wahlen beschleunigen zu wollen. Das hat er nur sehr ungeschickt angestellt. Hätte er sich auf wenige Dekrete beschränkt, wäre der Widerstand nicht so groß ausgefallen“, meint der Ägypten-Experte Asiem El D­ifraoui zum KURIER. Der Politologe geht davon aus, dass die Bevölkerung am Ende Ja zur neuen Verfassung sagen wird: „Die Menschen wollen jetzt schnell eine Verfassung, um das Land endlich zu stabilisieren. Und gerade in ländlichen Gegenden genießen die Muslimbrüder große Unterstützung.“

„Die Verfassung ist an sich nicht schlecht, aber es bleibt zu viel offen.“


In den 234 Artikeln der geplanten Verfassung gibt es viele Paragrafen, die Ägyptens Revolution Tribut zollen. So bleibt die Amtszeit des Präsidenten auf zwei Legislaturperioden beschränkt, auch wird die Religionsfreiheit darin festgeschrieben. Jener Artikel, der die Scharia als wichtigste Quelle der Gesetzgebung bezeichnet, stand bereits in der vergangenen Verfassung. In der Kritik von Mursis Gegnern stehen andere, beliebig interpretierbare Artikel. „Die Verfassung ist an sich nicht schlecht, aber es bleibt zu viel offen“, sagt El Difraoui. So fürchten nun Journalisten, dass der Anti-Beleidigungs-Paragraf gegen sie ausgelegt werden kann, wenn sie den Präsidenten angreifen. Islam-Gelehrte sollen bei rechtlichen Fragen „beratend“ zur Seite stehen. Zur Rolle der Frau in Ägypten – ein zuvor heiß debattiertes Thema – bleibt der Entwurf ebenso vage: Alle Bürger seien vor dem Gesetz gleich, doch das explizite Verbot sexueller Diskriminierung wurde ignoriert. Gerade das aber hatten sich Menschenrechtler zuvor erhofft.

Am Samstag werden die Islamisten in Kairo aufmarschieren, um für den Präsidenten Stimmung zu machen. Um neue Straßenschlachten zu verhindern, wollen sie aber den Tahrir-Platz meiden. „Das Ganze ist sehr spannungsgeladen. Hoffen wir auf ihre Verantwortung“, so El Difraoui.

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Kritiker des „neuen Pharao“ Mohammed Mursi demonstrieren seit Tagen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, die Anhänger des Präsidenten wollen heute, Samstag, Hunderttausende zu seiner Unterstützung auf die Straße bringen. Zusammenstöße zwischen Islamisten und dem säkularen Lager sind nicht ausgeschlossen. Beide Seiten spüren instinktiv, dass sich in diesen Tagen die künftige Ausrichtung ihres Landes vielleicht für Jahre entscheidet.

Mursi hat vor einer Woche in einem Handstreich den Verfassungsrichtern die Kompetenz abgesprochen, über die Rechtmäßigkeit seiner Entscheidungen zu befinden, und sich damit über das Gesetz gestellt. Zugleich hinderte er die Höchstrichter daran, das umstrittene Verfassungskomitee aufzulösen, in dem die Muslimbrüder und die Salafisten gemeinsam über eine stramm-islamistische Mehrheit verfügen.

Diese Mehrheit hat jetzt in einer Marathonsitzung bis zum Morgengrauen ihren Entwurf für ein neues, islamistisch geprägtes Grundgesetz durchgewunken. Unabhängig davon, wie viele heikle Artikel es tatsächlich enthält – die liberalen Gruppierungen Ägyptens und die Christen finden sich in dem Text jedenfalls nicht wieder. Sie haben das Komitee schon seit Wochen boykottiert.

Ziel verfehlt

Damit verfehlt die Verfassung von Anfang an ihr wichtigstes Ziel, nämlich die tragfähige Grundlage für ein Zusammenleben aller Ägypter zu bilden.
Mursi behauptet, er wolle mit seinen Maßnahmen die Revolution retten und diskreditiert die Höchstrichter als unzuverlässige Büttel des Mubarak-Regimes. Während der Präsident auf diese alte Gefahr verweist, erschafft er selbst eine neue – er spaltet die Gesellschaft und setzt Schritte in Richtung eines autoritären Systems.

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