Politik/Ausland

Russen evakuieren Stadt nach Kiewer Offensive

Tag 197 nach dem russischen Angriff auf die Ukraine:

Nach dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive haben die russischen Besatzer laut eigenen Angaben Frauen und Kinder aus der Stadt Kupjansk im ostukrainischen Gebiet Charkiw evakuiert. Laut russischen Kriegskorrespondenten drang die ukrainische Armee bei der Stadt Balaklija etwa 20 Kilometer in russisches Gebiet vor. Zu schweren Gefechten kam es nach ukrainischen Angaben erneut auch in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja.

Die Vorstöße bei Balaklija zielen auf Kupjansk. Die Stadt gilt als strategisch wichtig für den Nachschub der russischen Truppen, die im Norden auf den Donbass zumarschieren.

"Die Lage in der Stadt Kupjansk ist heute so, dass wir einfach gezwungen sind, die Evakuierung der Bevölkerung - zumindest der Frauen und Kinder - zu gewährleisten, weil die Stadt Raketenangriffen der ukrainischen Militärverbände ausgesetzt ist", sagte der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge.

Russische Truppen von Vorstoß überrascht

Die russischen Truppen wurden bei den Kämpfen in der Region Charkiw Berichten zufolge offenbar vom Vorstoß ukrainischer Kräfte überrascht. Laut dem ukrainischen Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch sind ukrainische Truppen viel weiter vorgedrungen als von Russland angegeben. Zwar räumten die Russen ein, dass der Ort Balakliia in der Region Charkiv eingekesselt sei, sagte Arestowytsch auf YouTube. Tatsächlich seien die ukrainischen Truppen aber viel weiter vorgedrungen und hätten die Straße nach Kupjansk blockiert.

Juri Podoljak, ein von pro-russischen Vertretern oft zitierter Ukrainer, schrieb auf Telegram: "Der Feind hat mit relativ wenigen Kräften beträchtlichen Erfolg bei Balakliia ... es sieht so aus, als hätten die russischen Kräfte diesen Vorstoß verschlafen und ihn anderswo erwartet." Es habe schwere Verluste gegeben. Balakliia liegt zwischen Charkiw und Isjum, einer Stadt mit einem für den russischen Nachschub wichtigen Eisenbahnknotenpunkt.

Mehrere Tote nach nächtlichen Angriffen

Bei nächtlichen Raketen- und Artillerie-Angriffen russischer Truppen wurden nach ukrainischen Angaben mehrere Menschen getötet. Attacken wurden aus verschiedenen Landesteilen gemeldet. In der Region Donezk wurden laut den dortigen Behörden sieben Zivilistinnen und Zivilisten getötet und im Großraum Charkiw fünf Menschen verletzt.

Gefechte nahe Atomkraftwerk Saporischschja

Zu schweren Gefechten kam es nach ukrainischen Angaben erneut auch in der Nähe des Atomkraftwerks Saporischschja. Der Generalstab des Militärs erklärte am Donnerstag früh, in den vergangenen 24 Stunden habe es Angriffe auf Dörfer und Ortschaften unter anderem mit Panzern und Granatwerfern gegeben. Regionalgouverneur Walentyn Resnitschenko schrieb auf dem Nachrichtendienst Telegram, russische Truppen hätten in der Nacht die Stadt Nikopol vier Mal mit Raketen und schwerer Artillerie angegriffen. Mindestens elf Gebäude seien beschädigt worden. Der Chef des Regionalrats von Dnipro, Mykola Lukaschuk, erklärte ebenfalls auf Telegram, Nikopol werde von russischen Truppen aus der Stadt Enerhodar heraus beschossen.

In Enerhodar liegt das AKW Saporischja, das von russischen Truppen kontrolliert wird. Russland und die Ukraine haben sich gegenseitig vorgeworfen, die Anlage zu beschießen. Am Donnerstag meldete die russische Nachrichtenagentur Tass unter Berufung auf den von Russland eingesetzten Chef der Verwaltung in Enerhodar, Alexander Wolga, die Ukraine habe das AKW nicht mit Artillerie angegriffen. In den vergangenen zwei Tagen seien aber Geschosse von Drohnen auf das AKW-Gelände abgefeuert worden.

Streit im UN-Sicherheitsrat

Unterdessen zeigten sich die USA und die Vereinten Nationen besorgt über Berichte über Inhaftierungen und Verschleppungen von Zivilistinnen und Zivilisten durch Russland. Bis zu 1,6 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter 1.800 Kinder, seien demnach durch Russland unrechtmäßig inhaftiert, verhört und aus ihren Heimatorten verschleppt worden, erklärte die UNO-Botschafterin der USA, Linda Thomas-Greenfield, in einer Sitzung des UNO-Sicherheitsrats. Diese Praxis sei eine Vorbereitung für eine Annexion ukrainischer Gebiete.

Der Rat habe festgestellt, dass ukrainische Zivilistinnen und Zivilisten in speziellen Lagern einem "Filtrationsverfahren" unterzogen werden, sagte die Leiterin der Abteilung für politische Angelegenheiten der UNO, Rosemary DiCarlo. Sie fordert Zugang zu allen inhaftierten Personen. In den kommenden Tagen werde zudem eine Untersuchungsmission nach Olenivka starten, wo im Juli 53 Ukrainerinnen und Ukrainer in einem Gefängniskomplex getötet worden sein sollen. Der russische UNO-Botschafter Vassily Nebenzia sagt, dass Ukrainerinnen und Ukrainer, die nach Russland reisen, "eher ein Registrierungs- als ein Filtrationsverfahren durchlaufen".

Atomkonzern beklagt Verschleppung seiner Mitarbeiter

Auch der Präsident der staatlichen ukrainischen Betreibergesellschaft des Atomkraftwerks Saporischschja erhebte schwere Vorwürfe gegen die russischen Besatzer. Ukrainische Mitarbeiter des AKWs würden auf dem Weg zur Arbeit gefangen genommen, einige seien spurlos verschwunden, sagt Petro Kotin, Präsident von Energoatom, den Zeitungen der Funke Mediengruppe.

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