Politik/Ausland

Frankreich droht Wirtschaftskollaps

Wenn die Situation nicht so ernst wäre, könnte man darüber lachen: In der Raffinerie Grandpuits östlich von Paris, seit drei Tagen im Ausstand, haben die Streikenden auf dem Betriebsgelände Zelte aufgeschlagen: „Wir müssen hier übernachten und haben daher eine Art Dorf errichtet“, erklärt ein Gewerkschaftler. Der Grund: wegen ihrer eigenen Liefersperren ist in der Gegend kaum mehr Sprit aufzutreiben, so dass auch die Raffinerie-Arbeiter ihre Streikposten weder verlassen noch, nach einem etwaigen Abstecher in ihre Wohnstätten, zurückkehren können.

Ähnliche Lähmungserscheinungen zeigen sich inzwischen in fast allen ökonomisch neuralgischen Punkten Frankreichs als Folge des Gewerkschafts-Aufstands gegen die Arbeitsmarkt-Reform der sozialistischen Regierung. Die zweitgrößte Wirtschafts- und Politmacht der EU droht zu kollabieren. Nach dem Stopp der Treibstoff-Versorgung kommt die allgemeine Stromsperre. Im AKW Nogent-sur-Marne, 100 Kilometer vor Paris, wurde am Mittwoch ein Reaktor, der wegen einer Überholung stillstand, nicht wie ursprünglich geplant wieder angeworfen. Streiks und Produktionsunterbrechungen dürften jetzt die gesamte Energiewirtschaft erfassen. Bereits Dienstag hatten Streikenden, nach einer Abstimmung der jeweiligen Belegschaft, alle Raffinerien Frankreichs unter ihre Kontrolle gebracht und ihre Treibstoff-Auslieferungen blockiert. In fast allen Häfen haben die Docker die Entladung der Öltanker komplett gestoppt.

Brennpunkt Le Havre

Die Gewerkschaftler haben auch die riesigen Wannen in den Ölterminals hermetisch abgeriegelt. Das Epizentrum des jetzigen sozialen Bebens ist die Normandie und ihr Atlantikhafen Le Havre, wo die Streikwelle ihren Ausgangspunkt nahm, und wo 40 Prozent der französischen Öl-Einfuhren abgewickelt werden. In der Gegend ist eine Kettenreaktion im Gang, die am Mittwoch zur Sperre durch Demonstranten der „Pont de Normandie“ führte, einem Mega-Bauwerk, das die Delta-Mündung der Seine überquert. Ein Gewerkschaftssprecher in Le Havre versicherte, man habe das Gelände der „Compagnie Maritime Industrielle“ auch besetzt, um die „Sicherheit“ der Anlagen zu bewahren: „Wir Gewerkschaftler der CGT sind ja nicht verrückt. 95 Prozent unserer Beschäftigten haben am Freitag für den Streik gestimmt. Seither haben wir eine perfekte interne Organisation auf unserem Betriebsgelände aufgezogen, damit unsere Einrichtungen keinen Schaden nehmen. Aber solange die Regierung nicht an den Verhandlungstisch zurückkehrt lassen wir keinen Tropfen Öl hinaus. Wir kämpfen hier nicht für uns, sondern für unsere Kinder“.

Auf Biegen und Brechen

Die erwähnte CGT ist die treibende Kraft in diesem Kampf auf Biegen und Brechen gegen die Arbeitsmarktreform der sozialistischen Regierung. Frankreichs Gewerkschaftslandschaft ist zersplittert. Die CGT, vormals von der KP gesteuert und heute links bis linksradikal aber partei-unabhängig, bleibt Frankreichs mächtigste Gewerkschaft. Auch wenn sie zuletzt von der eher moderat-linken CFDT (die die Arbeitsmarkt-Reform der SP-Regierung gutheißt) in einigen Branchen überrundet wurde. Bei ihrer jetzigen Brachialattacke auf die SP-Regierung hat die CGT allerdings mehrere andere, kleinere Gewerkschaftsbünde im Schlepptau. Vor allem aber nährt sich dieser frontale Zusammenstoß aus einer beidseitigen Schwäche und ursprünglichen Nähe der CGT und der SP-Staatsführung, und das macht ihn so unkontrollierbar und gefährlich. Die jetzige Radikalität der CGT kommt daher, dass sich ein beträchtlicher Teil der linken Wählerbasis von Präsident Francois Hollande nach ständigen Abstrichen von den Sozialregeln, die zum Kleinod der traditionellen Arbeiterbewegung gehörten, schlicht verraten fühlt. Während der sozialistische Staatschef in seiner sozial-liberalen Arbeitsmarkt-Reform seine letzte Chance sieht, auch nur irgendeine gestalterische Maßnahme zu hinterlassen. Er hat aber vermutlich nicht mehr die dafür nötige Autorität und Durchsetzungsfähigkeit, wie die für ihn katastrophalen Umfragen zeigen. Stattdessen wird er von allen Seiten her abgelehnt und für alle Probleme verantwortlich gemacht, darunter auch solche, die er, spät aber doch, zu lösen versucht. So geben, ebenfalls laut Umfrage, 61 Prozent der Franzosen die Schuld an der jetzigen Krise der SP-Regierung und nur 37 Prozent den Gewerkschaften.