Die EU erwartet heuer bis zu 300.000 Flüchtlinge aus Afrika
Von Irene Thierjung
2015 war das Jahr der Balkanroute, die vergleichsweise schwachen Flüchtlingsströme von Nordafrika nach Italien blieben weitgehend unbeachtet. Das ändert sich nun: Allein in den letzten vier Tagen rettete Italiens Küstenwache 13.000 Menschen aus dem Mittelmeer. Seit Jahresbeginn kamen 105.000 Migranten über die sogenannte Zentrale Mittelmeerroute – die meisten aus Eritrea, Senegal, Gambia, der Elfenbeinküste und Niger. Bis zu 300.000 Menschen aus Afrika könnten bis Jahresende Europa erreichen, schätzt die EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Dabei gilt die Route als gefährlichste Passage für Flüchtlinge weltweit. Jeder 85. Flüchtling überlebt sie nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration nicht. Heuer waren das bereits 3165 Menschen.
Doch warum flüchten trotz des hohen Risikos derzeit so viele Menschen über das Mittelmeer? Ein Grund ist schlicht das gute Wetter, wie Libyen-Kenner Wolfgang Pusztai dem KURIER erklärt. Viele Flüchtlinge wollten Europa noch vor Ende Oktober ansteuern – denn dann beginnen die Herbststürme. Ein solcher Anstieg bei den Überfahrten werde jeden Spätsommer verzeichnet, so Pusztai.
"Hinter dem Horizont"
Heuer kommt laut dem Experten allerdings dazu, dass die Schiffe der EU-Operation Sophia zur Bekämpfung des Menschenschmuggels im Mittelmeer "knapp hinter dem Horizont", also beinahe in Sichtweite der libyschen Küste patrouillierten. Und diese nehmen alle Menschen auf, die sie auf See finden. Das wollen viele Flüchtende nutzen, so lange es noch geht. Immerhin galt auch die Balkanroute monatelang als direkter Weg in die EU, bevor sie plötzlich geschlossen wurde. Auch die Schlepper machen sich die EU-Präsenz zunutze: Sie setzen immer billigere Boote ein und beladen sie mit immer mehr Menschen – darauf bauend, dass die EU-Schiffe die Menschen aufnehmen.
Ein weiterer Grund für den Anstieg der Flüchtlingszahlen auf der Zentralen Mittelmeerroute ist das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei. Migranten, die noch im Vorjahr illegal über die Türkei eingereist wären, kommen heute via Nordafrika. Als "neuer Hotspot" gilt dabei laut Frontex Ägypten. Die Überfahrten von dort – heuer werden rund 1000 erwartet – dauern oft länger als zehn Tage und sind dementsprechend gefährlich.
Alle Pläne, die Flüchtlinge bereits in Libyen zu stoppen, mussten aufgrund der instabilen Lage des Landes verworfen werden. Es gibt drei Regierungen, unzählige Milizen, und darüber hinaus den "Islamischen Staat". Laut Pusztai wäre es nötig, Libyens Nachbarstaaten beim Grenzschutz mehr in die Pflicht zu nehmen und vor allem den Stämmen im Süden, die den Menschenschmuggel abwickeln, eine andere Existenzgrundlage zu bieten. "Das ist ohne Stabilität im Land aber schwierig."
Wie viele Menschen in Libyen derzeit nach Europa wollen, ist unklar. Einige Schätzungen gehen von bis zu einer Million aus, Pusztai hält bis zu 150.000 für realistisch. "Es gibt viele Afrikaner, die in Libyen arbeiten und nicht weiter wollen."
Überfordert
Italien ist von dem Ansturm überfordert und fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Erneut pochte Premier Renzi bei seinem gestrigen Treffen mit der deutschen Kanzlerin Merkel auf mehr Unterstützung und eine Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU. Italien versorgt 130.000 Flüchtlinge, mehr als doppelt so viele wie Griechenland.