Terrorangst lässt Europas Hauptstadt stillstehen
"Absolut trist ist die Lage, einfach unfassbar", klagt der Buchhändler vis-à-vis der EU-Kommission. "Niemand kommt mehr in meinen Laden, das ganze Land leidet unter der schrecklichen Angst vor dem Terror. Es ist nur mehr gespenstisch", sagt der Geschäftsmann leise zum KURIER und seufzt: "Wir zahlen einen hohen Preis." Vor seiner Türe stehen Soldaten mit Maschinengewehren im Anschlag.
Eine Mutter wartet genervt mit zwei kleinen Kindern am Straßenrand. Sie braucht dringend ein Taxi zu ihrem Büro in der Brüsseler Innenstadt. Vergebens, alle Wägen sind ausgebucht, die U-Bahn fährt ja seit Samstag nicht mehr. "Ich muss meine Töchter in die Arbeit mitnehmen, weil der Kindergarten geschlossen ist. Der Alltag in Brüssel wird zur Qual", jammert sie und macht sich zu Fuß Richtung City auf.
Nichts geht mehr in der Ein-Millionen-Metropole – und das dürfte auch am Dienstag anhalten. Premier Charles Michel hat Montagabend nach einer Lagebeurteilung des nationalen Sicherheitsrates bekannt gegeben, dass die höchste Terroralarmstufe noch „mindestens einen Tag“ aufrecht bleibt. Das heißt die U-Bahn fährt nicht, die Schulen bleiben geschlossen.
Bei der Fahndung nach mutmaßlichen Terroristen nahm die belgische Polizei am Montag fünf weitere Verdächtige fest. Sie werden jetzt verhört, genauso wie jene 16 Terror-Verdächtigen, die Sonntagnacht bei einem Großeinsatz in Brüssel und Umgebung verhaftet worden waren.
Verwirrung gibt es um den mutmaßlichen Hauptverdächtigen für die Terroranschläge von Paris, Salah Abdeslam. Belgische Medien berichteten, dass der 26-Jährige Sonntagabend in einem Auto in der Nähe von Lüttich gesehen worden sei, er war angeblich Richtung Deutschland unterwegs.
Flüchtiger Dschihadist
Die belgische Staatsanwaltschaft dementierte allerdings, dass es sich um den meistgesuchten Dschihadisten Europas gehandelt haben soll. Salah Abdeslam ist weiter auf der Flucht. "Die unmittelbare Terrorbedrohung besteht noch immer, unsere Operation ist noch nicht zu Ende", stellte Innenminister Jan Jambon fest. Ob die höchste Terrorwarnstufe aufgehoben wird, darüber beriet der Nationale Sicherheitsrat Montagabend.
Die Terrorangst hat die Brüsseler seit Tagen fest im Griff. Sie fürchten, dass Metro Schulen, Museen, Kinos, Banken und Einkaufszentren weiterhin geschlossen bleiben. "Unseren Alltag zu leben wird immer mühsamer, dazu kommt die Nachrichtensperre", beschwert sich Cathleen, die Medizin-Studentin an der Université libre de Bruxelles, im KURIER-Gespräch.
Die EU-Institutionen fahren keinen Vollbetrieb, Normalität wird vorgetäuscht. "Kein Panik", betonte der Chefsprecher der Kommission, Margaritis Schinas. Viele Beamte arbeiten von zu Hause aus. Der Schuman-Bahnhof direkt unter dem Kommissionsgebäude Berlaymont ist gesperrt. Überall im sternförmigen Glaspalast hängen Plakate mit der Aufschrift "Alert, Alarmstufe gelb" – die höchste Warnung, die es in Belgien gibt. Erstaunlich, dass das Ratsgebäude auf der anderen Straßenseite mit orange weniger gefährlich eingestuft wird.
Vermummte Militärs
Im Ratsgebäude Justus Lipsius ging es am Montag durchaus betriebsam zu. Das Treffen der Euro-Finanzminister fand statt. Ressortchef Hans-Jörg Schelling kam in das belagerte Brüssel.
Äußerst gedämpft war die Stimmung am Grand Place. Vermummte, schwer bewaffnete Soldaten und ein gepanzertes Militärfahrzeug standen hier unter einem beleuchteten Weihnachtsbaum. Quergestellte Busse blockierten die Zufahrt zum Zentrum.
Eine Stadt unter dem Damoklesschwert:
Sprengstoffweste in Mülleimer nahe Paris gefunden
Zehn Tage nach den Anschlägen in Paris hat ein Müllmann in Montrouge nahe der französischen Hauptstadt eine beachtliche Entdeckung gemacht: Einen Sprengstoffgürtel. In der Bauart ähnelt die Selbstmordwaffe jenen Gürteln, die die Attentäter von Paris vor etwas mehr als einer Woche verwendet hatten. Die Staatsanwaltschaft in Paris bestätigte am Montagabend der Deutschen Presse-Agentur DPA, dass der verdächtige Gegenstand eindeutig identifiziert sei.
Laut Polizeiquellen war das Telefon des nun flüchtigen Terrorverdächtigen Salah Abdeslam am Abend der Anschläge in der Gemeinde Chatillon geortet worden, die an Montrouge grenzt. Der 26-jährige Franzose Abdeslam wird von den Ermittlern verdächtigt, bei den Anschlägen von Paris eine wichtige Rolle gespielt zu haben, möglicherweise als Logistiker. Sein Bruder Brahim sprengte sich während der Anschlagsserie in einem der angegriffenen Pariser Restaurants in die Luft. Wenige Stunden nach den Anschlägen mit 130 Toten soll sich Salah Abdeslam wieder nach Belgien abgesetzt haben. Der Anwalt von einem der zwei Verdächtigen, die Abdeslam am Tag nach den Anschlägen nach Brüssel gebracht haben soll, hatte gesagt, der Gesuchte sei „vielleicht bereit, sich in die Luft zu sprengen“.
Nach Angaben des Pariser Staatsanwalts bestanden die Sprengstoffgürtel der Attentäter aus dem Sprengstoff TATP, den Islamisten bereits 2006 bei einem Anschlag auf ein Flugzeug verwenden wollten – was Anlass zu den Flüssigkeitsregelungen auf Flügen gegeben hatte. Zudem waren die Westen mit Schraubbolzen ausgestattet, um die Wucht der Explosion zu verstärken.