Bericht aus Griechenland: "Europa, das war ein Traum"
Von Stefan Schocher
Drei Dutzend Iraner schweigend auf den Gleisen, daneben ebenso viele lauthals brüllende Pakistanis, eine Reihe Polizisten, das alles im Nichts zwischen Griechenland und Mazedonien – und wenige Meter hinter den Polizisten fährt ein Pferdefuhrwerk vorbei. Darauf ein – wohl – Bauer mit ganz eindeutig irritierter Miene. Nein, Idomeni ist nicht der Nabel der Welt, auch nicht die Stadt Gevgelija auf der anderen Seite der Grenze in Mazedonien. Die Gegend ist in Anbetracht der Umstände eine bestenfalls im Ansatz pittoreske Kulisse für ein Drama. Denn hier, auf und um die Bahngleise zwischen den beiden Staaten, akkumuliert sich gerade dieser Tage im kalten verregneten Spätherbst die ganze Tragik der gegenwärtigen Asylkrise auf dem Balkan.
Lange Durchzugsort
Seit Monaten ziehen Massen durch den kleinen Grenzort und die Stadt auf der anderen Seite auf dem Weg nach Westeuropa. Seit Monaten sehen die griechischen Behörden darüber hinweg. Idomeni war ein Durchzugsort, an dem keiner lang verweilte. Nur lassen die mazedonischen Behörden jetzt eben mehr Syrer, Irakis und Afghanen durch. Alle anderen – ungeachtet dessen, ob sie vor Krieg, Verfolgung oder bitterster Armut geflohen sind – bleiben hier hängen. Und das sind viele. An die 1000 Menschen sitzen hier fest. Seit 12 Tagen.
Sie kommen aus allen nur erdenklichen Staaten Afrikas – aus dem Norden, aus dem Süden, aus dem Westen, aus dem Osten –, aus Pakistan, dem Iran, aus China, Zentralasien, aus Bangladesch. Sechs große Zelte haben NGOs aufgebaut, darin kommen gerade einmal einige Familien mit Kindern notdürftig unter. Die allermeisten hausen unter Planen, in rissigen Zelten. Und sie alle suchen dasselbe: Freiheit ist so ein Wort, das sehr viele in den Mund nehmen. Ebenso wie Würde. Und nur die allerwenigsten sagen: ein besseres Leben.
Alles zu Hause verkauft
Shamal Rabbi aus Bangladesch war 25 Tage unterwegs in Bussen, zu Fuß, mit der Eisenbahn. Durch Indien, Pakistan, den Iran und die Türkei, um genau hier zu landen. Er hat, so sagt er, seine Vergangenheit hinter sich gelassen, um in seine Zukunft einzutreten. Es ist die Steißgeburt einer Zukunft. Er hat seinen Elektrikerladen in Dakka verkauft, um die 3000 Euro für die Reise zusammenzubekommen. In der Türkei schon war alles verbraucht. "Es war ein Traum", sagt er jetzt auf dem Bahndamm stehend, schlotternd von der vergangenen Nacht. Er meint die EU, wenn er von seinem Traum spricht. Und er will nicht an die Vergangenheitsform glauben, die er verwendet. "Sie sehen, was sie in den USA mit dunkelhäutigen Menschen machen? In Europa geschieht so etwas nicht."
Ausgeträumt hat er nicht. "Sie werden", so sagt er, und verbessert sich, "nein, sie müssen die Grenze aufmachen." Denn als Anhänger der BNP, der Nationalistischen Partei Bangladeschs, sei es eben so, dass er politisch verfolgt werde. Erst vor zehn Tagen waren zwei zum Tod verurteilte Anführer der Partei erhängt worden. Ihm drohe wohl zumindest einmal lange Haft. Und er werde nicht müde, das zu betonen, sagt er. Und Shamal Rabbi sagt: "Wenn nur einer zuhören würde."
Weil keiner zuhören wollte, haben sich sechs Iraner in dem Lager den Mund zugenäht. Einer jener, die noch sprechen, sagt, ein Polizist habe einen der Männer angeschnauzt, er solle den Mund halten. Ein anderer sagt, der Erste habe das einfach getan, weil man hier wie gegen die Wand spreche: Bestenfalls erhalte man ein Echo. Aber keinesfalls eine Antwort.
Mittlerweile haben sich jedenfalls mehrere Iraner dem stillen Streik angeschlossen. Täglich pilgern so alle im Lager – nicht nur die Iraner – täglich vor den Polizeikordon der Mazedonier: Einige singen, andere haben sich bemalt und schweigen, andere brüllen in Sprechchören "Öffnet die Grenze", andere streifen nur umher. Erst abends versuchen dann einige ihr Glück und versuchen, den mazedonischen Sonderpolizisten in die Finsternis zu entkommen.
Amir kommt aus Teheran. Er trägt eine schicke schwarze Brille, spricht gepflegtestes Englisch und trägt eine von der Reise sichtlich mitgenommene Kapuzenjacke einer Hipster-Marke und Jeans. Er sitzt auf den Geleisen neben den Männern, die sich den Mund zugenäht haben. Der Grund, weshalb er seine Heimat verlassen hat: "Dort kann ich nicht singen."
Er liebt Hip-Hop. Erwischt sei er zwar nie worden, aber es rauszubrüllen und nicht zu verstecken, das sei sein Traum. Und: "Mit meiner Freundin ganz offen auf der Straße gehen zu können." Und: "Ganz einfach in einer Bar ein Bier zu trinken." Dafür seien Freunde verhaftet worden und hätten eingesessen im Iran. Seine Freundin ist aber noch in Teheran und wartet auf Nachricht – am besten aus Berlin. Er aber? Er sitzt hier fest seit acht Tagen, kalten Stahl unter dem Hintern und keine wirkliche Aussicht auf ein baldiges Weiterkommen. "Ist dieser Ort hier eigentlich Europas Anfang oder Europas Ende?", fragt er. Aus seinem Blick ist nicht ganz genau abzulesen, ob er sich seiner Wortgewalt jetzt bewusst ist.
Gerade einmal vier Busse voll mit Polizisten haben die griechischen Behörden am Rande des Camps, das keines ist, positioniert. Zivilgesellschaftlich organisierte Helfer klagen über ein "spürbares Desinteresse", sich bei der Organisation der Abläufe hier einzubringen – seien es die Ausstellung von Papieren, Logistik oder die Organisation des Weitertransports der Syrer, Iraker und Afghanen. Sie werden genau durch diese Gruppe an Festsitzenden hindurchgeführt, zu einem improvisierten Übergang neben den besetzen Geleisen. "Was sie sehen, das machen sie", sagt ein Helfer mit Ironie in der Stimme und einer Geste mit ausgestreckten Händen in Richtung der Busse, in denen Polizisten in Straßenkampf-Ausrüstung gelangweilt sitzen. "Alles andere", so der Helfer, "machen wir."
Ein Bett um 20 Euro
"Wir", das sind ein ganzer Haufen an Organisationen. Angefangen bei Rotem Kreuz und Ärzte ohne Grenzen, UNHCR, bis über private lokale Initiativen und auch deutsche Freiwillige. Auch die Heilsarmee ist vor Ort. Selbst die Zeugen Jehovas haben einen Stand. Und irgendwo am Rande der Planensiedlung hat ein Pole ein Bett aufgebaut. Ein Prototyp, wie er sagt. Es ist regenfest, kostet 20 Euro in der Herstellung und wäre doch eine Lösung für Krisen wie diese, wie er sagt. Er hat es ausgestellt, damit es jemand abkupfert. Geld wolle er keines verdienen.
Geld verdienen indes fahrende Imbissstände, die sich an den Zufahrten positioniert haben. Und Läden in der Umgebung, die statt Gemüse und Alltagslebensmittel vermehrt auf Zelte, Gummistiefel, Regenjacken und warme Socken setzen. Angeschrieben zum Teil in Arabisch. Ebenso bei Hotels, die sich Erkältete oder Erschöpfte mitunter leisten. Alles ist ausgebucht im Umkreis von 20 Kilometern – zu Winterbeginn in einem an sich nicht gerade tourismusstarken Eck Griechenlands.
Auch Plastik wärmt
Als die Sonne untergeht, legt sich dicker Rauch über das Wäldchen, die Bahngeleise. Plastiksäcke, Holz, alles, was brennt und Wärme bringt, wird ins Feuer geschmissen. Neben dem Übergang für die Syrer, Iraker und Afghanen versuchen einige Gestrandete die Polizeiabsperrung zu durchbrechen, Steine fliegen, ein Zaun wird weggerissen. Es kommt zu einem Handgemenge.
Es sind letztlich mazedonische Polizisten, die kurz griechisches Territorium betreten, um die Menge zurückzuhalten. Die griechischen Beamten direkt an der Grenze sehen tatenlos zu. Jene, die in ihren Bussen an der Zufahrt zur Grenze sitzen, rühren keinen Finger. Nach wenigen Minuten ist alles vorbei. Einigen soll es gelungen sein, nach Norden durchzudringen. Ein Hoffnungsschimmer für die, die noch hier sind. Nach wenigen Minuten bringen mazedonische Polizisten einige Männer zurück. Das war es für heute. Zurück ans Feuer und hoffen auf eine trockene Nacht. Aber es sollte eine feuchte Nacht werden – auf die ein nasser Tag folgt.