Noch 19 Tage, aber wo wollen wir eigentlich genau hin?
Von Richard Grasl
Ich habe oft im Fitnesscenter mit einem neuen Programm begonnen (und es ebenso oft vorzeitig abgebrochen...). Aber immer stand zuerst ein Ziel. Wo wollen wir hin? Mehr Kondi? Weniger Gewicht? Mehr Muskeln? Am besten alles und gleich jetzt. Wo wollen wir also hin in den nächsten 19 Tagen? Was ist unser gemeinsames Ziel?
Lockdown #2, Tag 1:
Der Sonderbeauftragte Clemens Martin Auer aus dem Gesundheitsministerium hat es am Sonntag in der ORF-Sendung "Im Zentrum" aus seiner Sicht benannt. "Der R-Wert müsse unter 1 sinken." Also jeder Corona-Infizierte darf nur weniger als einen anderen anstecken.
Jetzt stellen Sie sich vor, Ihr Trainer steht vor Ihnen und vermittelt Ihnen dieses Ziel, das Sie a) nicht unmittelbar verstehen und nachrechnen können und b) in einer motivierenden Art, dass Sie am liebsten sofort den Fitness-Club verlassen, in die nächste Konditorei flüchten und drei Stück Torte inhalieren wollen. Ich habe selten einen so emotionslosen und besserwisserischen Auftritt gesehen wie diesen. Motto: Wir haben und hatten immer alles unter Kontrolle, fürchtet euch nicht. Wir sind halt grad die Schlechtesten auf der ganzen Welt. An uns liegt es nicht. Darum bleibt jetzt alle daheim. Punkt.
Es geht um Leben und Tod
Das Problem für die Zeit bis zum 6. Dezember ist nicht, ob der Nikolaus oder das Christkind kommen darf oder nicht. Es geht an den Intensivstationen dieses Landes im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod. Viele meiner Freunde, die die Gefahr bisher im besten Gewissen und im Vertrauen in ihre "Jugend" (ich rede von rauchenden Mitt-Vierzigern) kleingeredet haben, wurden bei den Worten von Dr. Christoph Wenisch, dem Corona-Spezialisten aus dem Kaiser Franz Joseph-"Corona-Spital" skeptisch. Wenisch war nämlich nie ein Alarmist, immer sehr besonnen. Am 6. September sprach er davon, dass 100 (in Worten: einhundert) tägliche Neuinfektionen für die Republik zu viel wären. Jetzt haben wir bis zu 9.000 erlebt, also das Neunzigfache. Als nun auch Wenisch sagte, dass die Lage ernst sei, war für viele Feuer am Dach. Täglich sterben längst weit mehr als 50 Menschen mit und durch Corona. Und wenn die Intensivstationen voll sind, steigt diese Zahl ins unendlich Traurige. Frag nach in Italien oder Frankreich.
Also was ist unser Ziel?
Trotzdem müssen wir uns ein Ziel setzen. In der Managementtheorie sagt man, es muss nachvollziehbar und herausfordernd, aber es muss auch beeinflussbar sein. Experten sagen nun: Wenn wir unter 2.000 tägliche Neuerkrankungen haben, dann geht die Zahl in den Intensivstationen wieder zurück. Setzen wir uns doch dieses Ziel für die nächsten 19 Tage. Schauen wir zu, wie die Spitalsbetten wieder leerer werden. Das Virus ganz auszurotten, wird uns bis zu einer Impfung nicht gelingen. Aber ein für das Gesundheitssystem schnaufbares Maß muss erreichbar sein.
Aber nicht nur wir müssen 19 Tage diszipliniert sein
Die knapp drei Wochen müssen auch die Corona-Manager nutzen. Drei Wünsche dazu:
1. Das Tracing darf nicht an Personalknappheit scheitern. Nehmt Personal auf und schult es, als hätten wir die heutige Infektionsdynamik! Tausend Tracer mehr kosten milliardenfach weniger als ein dritter Lockdown.
2. Bitte endlich um ein Konzept für die Kindergärten und Schulen! Nur eine Kombination aus Tests, Luftreinigern, Maskenpflicht und Hygienemaßnahmen plus Aufklärung der Kinder (hoch drei) kann unseren Kleinsten ihre Bildungschancen garantieren und die Lehrer aus der Gefahrenzone bringen. Wer jedoch wegen drei Wochen Lockdowns von einer "verlorenen Generation" spricht, möge sich bitte schon jetzt bei unseren Kindern entschuldigen. Nicht jeder, der wegen eines Blinddarmdurchbruchs einige Wochen in der Schule pausieren musste, ist ein ungebildeter Mensch geworden.
3. Wir müssen etwas für die Stimmung im Land tun! Die TV-Spots der deutschen Bundesregierung sind Weltklasse. Sie gehen unter die Haut, und zwar jedem, ob jung oder alt, ob links oder rechts. Pressekonferenzen, Verordnungen, Polizeikontrollen sind gut, aber wie hat Antoine de Saint-Exupéry gesagt: "Wenn Du ein Schiff bauen willst, trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern Lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, unendlichen Meer".
Diese Sehnsucht nach einem Leben wie vor dem März 2020 hat wohl jeder von uns. Dieses wiederzuerlangen, muss das Ziel der nächsten Tage sein. Und wie es Prof. Wenisch im September sagte: "Man kann immer alles anzweifeln, aber das ist nicht lösungsorientiert. Es ist absolut bewiesen, dass die Maske wirkt. Die Kritik an Masken ist ein Festhalten an einem archaischen Wissen. Das ist so wie die g´sunde Watschen, wenn jetzt einer sagt, die Maske wirkt nicht. Wenn jemand an diesem archaischen Wissen vom Februar festhält, ist er ein Ewiggestriger. Evidenz ist da."
Morgen geht's weiter mit unserem LOCKDOWN DAILY, Tag 2.
Inputs und Feedback bitte an richard.grasl@kurier.at