Wir müssen Platz für Verzweifelte machen
Von Josef Votzi
Wir müssen Platz für Verzweifelte machen
über die Flüchtlingsproblematik
Die Rollen waren perfekt besetzt. Hier der leidenschaftliche Mahner für mehr Rettungsaktionen und Asylplätze: "Diese Union tötet: Einer EU, die beim Sterben zuschaut, sollte der Nobelpreis weggenommen werden" (Heribert Prantl, Süddeutsche Zeitung). Dort der Warner, dass die EU "noch attraktiver" für Asylwerber werde, wenn sie den "Todeskanal" Mittelmeer nicht dicht mache: "Die politischen Eliten sind schuldig, weil sie die illegale Einwanderung nicht stoppen" (Roger Köppel, Weltwoche). Gipfel des Schlagabtauschs: "Die Bootsflüchtlinge wollen kein besseres Leben, sie wollen überleben" (Prantl). – "Das ist richtig, aber wir haben eine Rechtsordnung" (Köppel).
Ein gemeinsamer wahrer Moment kam erst im Finale der kurzfristig angesetzten ARD-Talk-Runde über das neue Flüchtlingsdrama Sonntagabend bei Günther Jauch auf (ORF-"Im Zentrum" blieb jenseitig und ließ ungerührt über "Mehrarbeit für Lehrer" streiten). Ein Mann im Publikum, Harald Höppner, sollte erzählen, wie er sich mit einem Fischerboot aufmachen will, um einfach "Menschen zu retten und zu zeigen, was man machen kann. Da gibt es nichts zu diskutieren ..." Sprach’s und stürmte mitten im Satz das Podium. Der Aktivist forderte alle im Berliner Gasometer auf, eine Gedenkminute lang für die Opfer der aktuellen Katastrophe aufzustehen. Jauchs Versuche abzublocken halfen nichts, dann stand auch die Fraktion der scheinbaren Kaltherzigen in Jauchs Runde für eine – schmerzhaft lange – tonlose TV-Minute schweigend da.
Ein dramatischer Moment der Besinnung, der spürbar machte, worum es jetzt wirklich geht: Vor der Haustür einer der reichsten Regionen der Erde ist der Teufel los. Schluss mit ewigen Reden, auf zum beherztem Tun.
Fluchtversuch in eine bessere Welt ist legitim
Es gibt keine einfachen Antworten. Es gibt für alles "auch keine schnelle Lösungen"(Deutschlands Außenminister Frank Walter Steinmeier). Das darf uns aber nicht davon abhalten, jeden, der beim Fluchtversuch in eine bessere Welt kentert, retten zu wollen. Das unausgesprochene Kalkül, jeder im Mittelmeer ertrunkene Flüchtling ist vielleicht bald einer weniger, der diesen Weg versucht, ist menschenverachtend, zynisch und Beihilfe zur Tötung.
Außenminister Sebastian Kurz ist beizupflichten, wenn er das Übel an der Wurzel packen und "verhindern will, dass die Menschen diese Todesfahrten erst beginnen". EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini hat Recht, wenn sie gestern in Luxemburg proklamierte: "Es ist unsere moralische Pflicht zu verhindern, dass das wieder und wieder passiert". Sie und wir alle, die einen menschlicheren Umgang mit Flüchtlingen von Brüssel einfordern, werden daran zu messen sein, ob wir auch dem ersten scharfen Gegenwind zu Hause standhalten.
Denn jeder überlebende Boots-Flüchtling von heute ist ein Asylwerber von morgen. Die Mehrheit sind Verzweifelte, die dem kriegerischen Grauen rund um Syrien entkommen sind und zu Recht Hilfe bei uns suchen.
Sie sollten sie auch mehr denn je bei uns finden.