Meinung/Kommentare/Innenpolitik

Die Angst vor einem Mehrheitswahlrecht

Eine Wahlrechtsreform ist kein Straßenfeger. Aber ein Lackmustest für jede politische Partei,

Dr. Helmut Brandstätter
über den Wiener Wahlrechts-Streit

Treuherzig versichern uns jetzt die Wiener Grünen, sie hätten ja gerne das Wahlrecht in Wien reformiert. Aber die SPÖ wollte nicht, was soll man da schon machen (mehr dazu lesen Sie hier). Die Sozialdemokraten wiederum haben einen anderen PR-Gag auf Lager: Es wollen ja viele ein Mehrheitswahlrecht, was spricht also dagegen, dass die stärkste Partei bevorzugt wird und man mit rund 45 Prozent der Stimmen schon eine Absolute im Landtag erreichen kann?

Alles spricht dagegen, weil es nur ein Schmäh ist. Wer für ein Mehrheitswahlrecht – etwa nach britischem Vorbild – ist, der muss auch für ein Persönlichkeitswahlrecht sein. Da würden dann in jedem Wahlkreis Politikerinnen und Politiker gegeneinander antreten, und wer die relativ meisten Stimmen bekommt, zieht in den Landtag ein. Da aber verlässt alle Parteien der Mut. Denn plötzlich käme es auf Persönlichkeiten an, die bei den Wählern gut ankommen, und nicht mehr auf Parteichefs und deren Sekretariate, die Wahllisten bestimmen. Und je kleiner der Einfluss der ehemals großen Parteien ist – die Wiener SPÖ hatte einmal fast zwei Drittel der Stimmen und liegt jetzt in Umfragen unter 40 Prozent –, desto größer ist der Wunsch, die noch vorhandene Macht zu erhalten. Und zu genießen.

Da wird es spannend, wie die SPÖ-Minderheit im Wiener Landtag die Geschäftsordnung strapazieren wird, um eine Wahlrechtsreform, zu der sich Grüne, FPÖ und ÖVP verpflichtet haben, zu verhindern. Und interessant wird auch, wie glaubwürdig die Grünen dafür kämpfen werden. Eine Wahlrechtsreform ist kein Straßenfeger. Aber ein Lackmustest für jede politische Partei, wie ernst sie die Demokratie nimmt.