Meinung/Kolumnen/Tagebuch

1978, 2010, 2014, 2018, 2022

Jahrzehnte hatte der Fußball (nicht nur in Südamerika) zum Ablenken vom sozialen Elend gedient.

Wolfgang Winheim
über die Kluft zwischen Arm und Reich

Er habe als Kind auf einem abschüssigen Spielfeld gekickt. Bergab, sagt Neymar, sei es schwieriger gewesen, den Ball unter Kontrolle zu halten als bergauf. Das habe ihn technisch geprägt.

Bei der WM-Generalprobe namens Confed-Cup hat Brasiliens, von Barcelona für 57 Millionen geholter Ausnahmekicker die Vorschusslorbeeren gerechtfertigt. Trotz aller Begeisterung um den Star von der schiefen Wiese aber geriet seine Heimat ins schiefe Licht.

Mehr als eine Million Menschen trieb die Wut über Korruption und hohe WM-Kosten auf die Straßen. Immerhin haben Teamchef Luiz Felipe Scolari und der mit Geld und Lob verwöhnte Neymar die Beziehungen zum Volk nicht verloren, sagten doch beide in Mikrofone: „Die armen Menschen protestieren zu Recht.“

Bei der letzten WM in Südamerika wären solche Äußerungen übers eigene Land noch undenkbar gewesen. Regimekritikern entledigte sich Gastgeber Jorge Videla schon im Vorfeld. Das war in Argentinien. Vor genau 35 Jahren, als auch das Wunder von Cordoba (ÖsterreichDeutschland 3:2) den Blick hinter die kriminellen politischen Kulissen trübte.

Dass argentinische Soldaten 1978 in Schützengräben hockten, um das ÖFB-Camp in Moreno zu schützen, empfanden Spieler und Betreuer alsbald als normal – auch, dass am Weg ins Stadion stets eine andere Route gewählt wurde. Nur ein Mal, als ein Bahnschranken den Mannschaftsbus stoppte und ein Geheimdienstler hektisch den Balken per Axt zertrümmerte, wurde Prohaska, Krankl und Co für ein paar Minuten bewusst, wie groß die Terrorangst wirklich war.

Abgesehen von den einzig aufs Kicken fokussierten jungen Spielern – auch die meisten von uns nur zwischen Stadion, Hotel und Flughafen pendelnden Sportreportern durchschauten das brutale Spiel der Militärjunta nicht. Eine Qualitätszeitung warf Argentinien-Kritikern sogar Gräuelberichterstattung vor. In Wahrheit hatte der Boulevard maßlos untertrieben. Erst zwei, drei Jahre später sickerte durch, dass General Videla 30.000 Menschen liquidieren ließ. Und dass nur am Finaltag im 900 Meter vom River-Plate-Stadion entfernten Armee-Kerker nicht gefoltert wurde, während Millionen jubelnd über das 3:1 gegen Ernst Happels Niederländer durch Buenos Aires zogen.

Jahrzehnte hatte der Fußball (nicht nur in Südamerika) zum Ablenken vom sozialen Elend gedient. Jetzt werden Fußball-Topereignisse genutzt, um eben diese Kluft zwischen Arm und Reich anzuprangern.

Das wird auch vor der WM 2018 in Russland und 2022 vor der WM in Katar so sein, nachdem es schon 2010 in Südafrika so gewesen ist. Am Kap geht’s den Menschen seither nicht besser. Trotzdem war Südafrika den Medien zuletzt nur noch eine lakonische Meldung wert:

1:2 gegen Äthiopien. Der WM-Gastgeber von 2010 hat die Qualifikation für Brasilien 2014 verpasst.