Meinung/Kolumnen/Knecht

Oder 142 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe

Augenmaß, Sensibilität: leider nicht immer.

Doris Knecht
über den Umgang der Justiz mit psychisch Kranken

Weil wir ja gestern Menschen priesen, die bei der Ausübung ihrer Profession Sensibilität und Augenmaß anwenden: Die Flüchtlingsberaterin Karin K. wurde vorgestern von ihrer Klientin, Frau M. aufgesucht, die mit Aufenthaltsberechtigung in Wien lebt. Ihr 33-jähriger Sohn reiste vor eineinhalb Monaten über Polen nach Österreich ein, um hier um Asyl anzusuchen. Warten Sie, es geht in dieser Geschichte nicht um Asyl: Der junge Mann leidet an paranoider Schizophrenie, hatte während seiner Flucht keine Medikamente, und war, als er ankam, in kritischem Zustand.

Frau K. brachte den Sohn am nächsten Tag für den Asylantrag ins Lager Traiskirchen. Leider verließ er es in der Nacht, suchte ein Lokal auf und erlitt dort einen Anfall: er weinte und schrie. Ein Gast rief die Polizei; Herr M. wurde ins Lager zurückgebracht.

Wo man den Amtsarzt rief, der Herrn M. im Krankenhaus Mödling einweisen ließ, wo er behandelt und drei Wochen später, Anfang Dezember, mit einem Depot-Medikament entlassen wurde. (Der Arztbrief liegt vor.)

Derzeit wird Herr M. von seiner Mutter in Wien gepflegt, vorgestern kam Post. Und zwar eine Strafverfügung der BH Baden: über den Sohn wurde eine Verwaltungsstrafe verhängt. Warum? Zitate aus der Verfügung: 1. habe er durch „besonders rücksichtsloses Verhalten die öffentliche Ordnung ungerechtfertigt gestört, weil Sie auf dem Fußboden des Lokals sitzend laut geschrien haben und sich dadurch die anwesenden Gäste belästigt gefühlt haben“. 2. habe er sich „trotz vorausgegangener Abmahnung gegenüber einem Organ der öffentlichen Aufsicht, während dieses seine gesetzlichen Aufgaben wahrnahm aggressiv verhalten und dadurch eine Amtshandlung behindert, weil Sie verbal immer lauter wurden und in Richtung der einschreitenden Beamten drohend (mit ,pistolenähnlicher‘ Handbewegung) gestikuliert haben.“ Strafe: 150 Euro oder 142 Stunden Ersatzfreiheitsstrafe.

Noch einmal: Der Mann ist krank. Augenmaß, Sensibilität: leider nicht immer.