Bunter Beton verrät keine Gräuel
Von Peter Draxler
Warm muss es gewesen sein, damals in Berlin
lag wahrscheinlich im Bett
Als in Berlin die Mauer fiel, lag ich höchstwahrscheinlich im Bett. Ganz sicher kann ich es nicht sagen, meine Erinnerungen sind etwas verschwommen, ich schiebe es auf mein Alter, ich war neun. Für mich hatte sich der Arbeiter- und Bauernstaat zeit meines damaligen Lebens vor allem im Rahmen von Sportereignissen manifestiert. Und da hauptsächlich, weil ich nicht verstehen konnte, warum das, was jeder als DDR bezeichnete, plötzlich GDR hieß.
Warm muss es jedenfalls gewesen sein, damals in Berlin. Als sie auf die Mauer kletterten, sah man von vielen Menschen das nackerte Kreuz. Das war etwas, dass sämtliche moralischen Instanzen von Mama abwärts bei Temperaturen unterhalb von 20 Grad als absolutes No-Go klassifiziert hatten. Die Freude der Menschen konnte ich gut nachvollziehen. Ich wollte damals auch immer gerne auf hohen Mauern stehen. Man hat halt so seine Phasen… Die politische Bedeutung des Mauerfalls erschloss sich mir – man mag es erahnen – noch nicht im November des Jahres 1989.
Ich kannte Bürger der DDR. Sie waren Gäste im Gasthaus meines Onkels im Oberen Mühlviertel. Und ihre Kinder sprachen zwar komisch, waren aber sonst ganz okay. Mein Vater erzählte mir damals, dass die Eltern der Kinder meistens gut ausgebildete Ingenieure waren. Trotzdem mussten sie sparsam sein und wurden von bundesdeutschen Gästen deswegen oft gehänselt. Das fand ich unfair. Denn wie gesagt: Ihre Kinder waren eigentlich ganz okay.
Die Gäste meines Onkels brachten ihm bei ihrem nächsten Sommerurlaub mehrere Stücke der abgerissenen Berliner Mauer mit. Bunter Beton, der so gar nichts über die mit ihm verbundenen Gräuel verriet. Ich fand es irgendwie schade, dass man eine so bunte Wand einfach so weggerissen hat. Die politische Bedeutung des Mauerfalls erschloss sich mir – man mag es erahnen – auch im Sommer 1990 noch nicht.
Erst später erfuhr ich von den Schikanen im eigenen Land, vom Klicken in der Telefonleitung, wenn sich die Stasi einklinkte und von der ständigen Angst, das Richtige gegenüber den Falschen zu sagen. Von Fluchthelfern und Todesstreifen, von Republikflucht und Sippenhaftung und von den "Inoffiziellen Mitarbeitern" des Ministeriums für Staatssicherheit. Heute amüsiere ich mich über DDR-Ausdrücke wie "Winkelemente" und "Schwebedeckel" (die Erklärungen und weitere Beispiele finden Sie hier). Und ich weiß, dass die Welt eine andere wäre, ohne den Wandel, der im Fall der Berliner Mauer im November 1989 erstmals mit Macht zum Durchbruch drang.