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Kann denn Essen Sünde sein?

Er sieht im modernen Postulat einer „gesunden Ernährung“ ebenso religiöse Züge wie im Diätenwahn. Und Ratgeber verspottet er als „Ratschläger“. Mit seinen Ansichten provoziert und polarisiert der deutsche Lebensmittelchemiker und Wissenschaftsjournalist. Bei einem Wiener Wurstsalat erklärte er vor Kurzem anlässlich einer Einladung der Initiative „Mein Veto“, warum er fast allergisch auf das Wort „gesund“ reagiert und warum es schädlich sein kann, das Verlangen nach Schlagobers zu unterdrücken.

KURIER: Wir haben gerade Wiener Wurstsalat bestellt – soll ich jetzt ein schlechtes Gewissen haben, dass ich zu viel Fett zu mir nehme?

Udo Pollmer: Nur, wenn Sie sich mit dem religiös geprägten Prinzipien von Entsagung und Kasteiung wohlfühlen. (lacht). Das Wort „Ess-Sünde“ sagt alles und die Priester der „gesunden Kost“ heißen ja nicht umsonst „Ernährungspäpste“. Offenbar gibt es eine Lust der Menschen an Verboten und an Unterwerfung.

Und wenn ich die Extrawurst durch eine magere Wurst ersetze und die Mahlzeit trotzdem genieße?

Viele würden gern die magere Wurst statt der fetteren kaufen, aber Fett ist nun mal ein Geschmacksträger. Ist Limo etwa geschmacksneutral? Wasser ist genauso ein Geschmacksträger – sollen wir deshalb weniger trinken? Unser Körper misst ohnehin nach, wie viel Fett in der Nahrung ist. Ist es nicht genug, holt er es sich woanders. Als der Belag auf dem Frühstückssemmerl fettärmer wurde, begann in Deutschland der Siegeszug der Croissants. Da ist das Fett schon drin! Sie kennen vielleicht, dass man Heißhunger auf eine Packung Vanilleeis bekommt und nicht aufhören kann, bis sie leer ist. Danach hat der Körper wieder den Fettgehalt, den er braucht. Das ist eine simple, biologische Sicherung, damit der Mensch nicht ausstirbt. Danach kann man getrost wieder die nächste Diät beginnen.

Das heißt, der Körper holt sich ohnehin immer aus der Nahrung, was er braucht?Normalerweise schon. Das ist ganz sauber reguliert, darüber gibt es zahlreiche Untersuchungen. Wenn Sie ihn aber zwingen, weniger Fett aufzunehmen, muss er sein Quantum mit einer Überdosis an Kohlenhydraten kompensieren. Man muss hier auch den jeweiligen Ernährungstyp berücksichtigen. Wenn man etwa dem Eiweiß-Fett-Esser das Fett wegnimmt, wird er davon fetter.

Ich muss also kein schlechtes Gewissen haben, wenn mich Lust auf Schlagobers überkommt, weil es mein Körper braucht? Essen ist ein Trieb. Wenn wir nicht essen, sterben wir. Essen ist damit noch „triebhafter“ als Sexualität. Deshalb ist die Befriedigung dieses Triebes auch mit einem angenehmen Gefühl verbunden. Wir essen, weil der Körper die Energie braucht, um seine Körpertemperatur aufrecht zu erhalten. 70 Prozent der verspeisten Kalorien verwendet der Körper, um die inneren Organe und das Hirn auf 37 Grad Arbeitstemperatur zu halten. Wenn Sie Ihren Körper unterversorgen, dann bekommen Sie halt kalte Hände und Füße. Damit spart der Körper Energie. Man wird unruhig und friert. Wenn Sie zu viel gegessen haben, wird Ihnen heiß – so wird Energie abgedampft.

Hören wir zu wenig auf unseren Körper?

Viele Menschen glauben, sie können ihren Körper über ihren Speisezettel designen. Offenbar wissen nur noch wenige, dass sie ihren Körper von ihren Eltern ererbt haben. Es ist notwendig, auch die Körperbautypen zu unterscheiden. Wer die Merkmale kennt, kann viel besser vorhersagen, was da passiert. Der leptosome Typ (hager, neigt zu Schlankheit, Anm.) hat wenig Fett, ist also schlecht isoliert. Die müssen meistens viel essen und nehmen trotzdem nicht zu. Wenn sie unter Stress stehen, nehmen sie ab. Da Diäten stressen, nehmen Hagere noch mehr ab. Pyknisch veranlagte Menschen (untersetzt, neigt zur Korpulenz, Anm.) nehmen unter Stress zu. Jede Diät wird sie langfristig dicker machen. Der Körper versucht, seine inneren Organe besser zu isolieren, das Fett am Bauch wächst.

Dabei scheint sich heute alles um gesunde Ernährung zu drehen. Es gibt so viele Ernährungsexperten wie noch nie, aber auch so viele Übergewichtige wie noch wie.

Ich nenne diese Leute gerne Ratschläger. Was für ein tolles Gefühl, anderen Vorschriften zu machen! Keiner der Ratschläger kann mir erzählen, dass er nicht weiß, dass Diäten die Frauen dicker, kränker und unglücklicher machen. Eine gesunde Ernährung für alle gibt es ebenso wenig, wie es eine gesunde Schuhgröße für alle gibt.

Aus Ihrer Sicht gibt es also gar keine gesunden Lebensmittel. Wie soll man sich dann ernähren?

Jeder Mensch ist anders. Ernährungsratschläge für die gesamte Bevölkerung sind boshaft. Was man raten kann ist, dass Nahrung bekömmlich sein muss. Denn unbekömmliche Nahrung kann nie gesund sein.

Zur Person

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Udo Pollmer, 59, hat Lebens- mitteltechnik studiert. Er arbeitet als Wissenschaftsjournalist und Buchautor. Er ist einer der Autoren des „Lexikon der populären Ernährungsirrtümer“ (Piper Verlag, 11,30 €) sowie „Wer gesund lebt, ist selber schuld“ (BLV, 13,40 €) und „Wer gesund isst, stirbt früher“ (BLV, 9,99 €). Seine Radiosendung „Mahlzeit“ läuft wöchentlich im Deutschlandradio Kultur.