Überforderte Eltern: Wenn Familien an ihre Grenze stoßen
Die Kinder essen nicht, schlagen sich, andere wiederum schlafen nicht – und die Eltern wissen nicht mehr weiter. Mit den Familien, die im Dokumentarfilm „ Elternschule“ gezeigt werden, hat man Mitleid. Man sieht überforderte Erwachsene und Kinder, die in der Kinder- und Jugendklinik im deutschen Gelsenkirchen Hilfe von Experten suchen. Hier müssen die Kinder regelmäßig essen und schlafen gehen, manchmal auch ohne ihre Eltern. Das ist hart – für alle. Auch für die Zuschauer, die sich von der Doku Erziehungstipps für ihre eigenen Probleme erwartet haben.
Überraschend heftig fielen danach die Proteste gegen die Methoden des Klinikteams aus. Es sei schädlich für die Kinder, wenn sie in der Nacht von den Eltern getrennt sind. Der Wille der Kinder werde gebrochen, wenn sie zu Mahlzeiten gezwungen werden. Die Methoden würden an Kindesmisshandlung grenzen.
Der wütenden Kritik entgegnete die Klinik, „dass diese Therapiesituation etwas anderes ist als die Erziehung gesunder Kinder“. Tatsächlich haben die Situationen in der Doku mit einem normalen Familienalltag nichts zu tun. Betroffene Eltern verteidigten die Klinik, dass man sie und ihr Kind in Gelsenkirchen vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt habe.
Welche Grenzen?
Die Forderung, Eltern müssten Grenzen setzen, ist nichts Neues. Was sich jedoch in der Diskussion zeigt: Es gibt keine Allheilmittel für Kindererziehung. Man verweist Eltern oft auf ihr Bauchgefühl – selbst wenn sie vor lauter Stress richtig und falsch nicht mehr unterscheiden können. Die Diskussion um die „Elternschule“ hat dieses Vertrauen noch weiter erschüttert. Wenn nicht einmal die Ärzte in einer Klinik unumstrittene Methoden haben, wem kann man dann noch vertrauen?
In Elternforen im Internet merkt man die Unsicherheit deutlich. Ist ein Schlaftraining gut für Babys oder schlecht? Bedürfnisorientierte Erziehung? Handyverbot – ja oder nein? Was ist besser für mein Kind oder zumindest weniger schädlich? Sogar die Politik ist sich unsicher, was richtig ist, wie man an der aktuellen Diskussion um die Schulnoten und andere Bildungspläne erkennen kann.
Was fehlt hier? Das sprichwörtliche Dorf, das ein Kind erzieht. Der väterliche Freund, der einen rebellischen Jugendlichen zur Seite nimmt. Die Freundin oder Tante, die mit sicherem Griff ein Bauchwehbaby auf den Arm nimmt. Und gut erreichbare Helfer, die Eltern sagen, wie man sich durchsetzt, wenn die Watsche nicht mehr als gesund und Zwang als verpönt gelten.
Nein aus Liebe
Dazu haben die beiden Koryphäen der modernen Pädagogik, der dänische Familientherapeut Jesper Juul und der israelische Psychologe Chaim Omer – beide bereits um die 70 Jahre alt –, schon lange gesagt, was nötig ist: „Nein aus Liebe“ und „Neue Autorität“, heißen ihre jeweiligen Konzepte. Ihre Aussage ist klar: Die Eltern müssen die Regeln vorgeben.
Wer also mit einer Mutter befreundet ist, die sich von ihrem Zweijährigen schlagen lässt, oder einem Vater, der von seinem Siebenjährigen als Trottel bezeichnet wird, kann sie in aller Freundlichkeit aufmerksam machen, dass sie sich das nicht gefallen lassen sollen. Weil sie ihrem Kind damit keinen Gefallen tun. Wenn Eltern das Vertrauen in sich selbst verlieren, kommt den Kindern ihr „Leuchtturm“ (Jesper Juul) abhanden. Es mag ein schmaler Grat zwischen Beraten und Dreinreden sein, aber Alleinelassen hilft niemandem.
Gleichgewicht
Das Gefühl von Ohnmacht ist ein Muster, das sich in der „Elternschule“-Doku genauso findet wie bei genervten Eltern pubertierender Jugendlicher auf Facebook. Und die Unsicherheit, wieviel Freiraum sie den Kindern lassen sollen und wieviel Struktur sie vorgeben müssen. Beides brauchen Kinder dringend für ihr Gleichgewicht. Damit es gar nicht soweit kommt, dass sie in einer Klinik wie Gelsenkirchen landen.
In unserer modernen Gesellschaft sind Eltern – vor allem Mütter – oft alleingelassen und steigern sich mit ihrem Kind in eine Spirale der Verzweiflung hinein. Es gibt wenige schlimmere Vorwürfe für eine Familie, als dass ihr Kind nicht funktioniert.
Der Satz „Ich weiß nicht mehr, was ich mit dir machen soll. Ich schick dich ins Internat“ an einen Pubertierenden ist pädagogisch nicht wertvoll, sondern nur ein Ausdruck von Verzweiflung. So wie auch der Rat an überforderte Eltern von Schreibabys: „Wenn du glaubst, du schaffst es nicht mehr, dann leg’ es sicher in sein Bett und geh’ für fünf Minuten aus dem Zimmer. Besser so als du verlierst die Nerven.“
Zum Film
Als der Film „Elternschule“ anlief, lösten er heftige Diskussionen über Kindererziehung aus. Kinderarzt Herbert Renz-Polster und andere Experten kritisierten die Methoden, Kinder zum Essen oder Schlafen zu bringen, als Kindesmisshandlung. 23.000 Personen unterzeichneten eine Petition gegen den Film und die Klinik. Die Staatsanwaltschaft ermittelte, stellte ihre Untersuchung aber wieder ein. Die Webseite des zuständigen Arztes und die Facebookseite des Filmteams sind inzwischen offline. Sie hielten dem Ansturm der Kritiker nicht stand.