Faszination lebender Ast
Von Hedwig Derka
Sie schauen aus wie ein dünner Ast mit Zweigen, sie kommen als saftiges Blatt daher oder als Laub oder sie tarnen sich als knorriges Steckerl: Etwa 3000 Stabschrecken-Arten sind derzeit beschrieben. Die Insekten ahmen vor allem in Asien und Südamerika Pflanzenteile nach, wenige kommen in Afrika vor, ganz selten leben sie im mediterranen Raum.
„Zwei Arten haben sich als Haustiere etabliert: die Australische Gespenstschrecke und die Annam Stabschrecke. Mit Heuschrecken haben sie nichts zu tun“, sagt KURIER-Tiercoach Dagmar Schratter. Die Direktorin des Tiergarten Schönbrunn weiß, dass viele dieser genügsamen Nahrungsspezialisten mit der tollen Tarnung auch in Schulklassen gehalten werden. Anton Weissenbacher, Zoologischer Leiter Reptilien, Fische, Insekten im Wiener Zoo, gibt Tipps für die artgemäße Versorgung der Sechsbeiner.
Stabschrecken sind keine Streichel-Schmusetiere. Die Gefahr, das Tier bei Kontakt zu verletzen, ist groß. Doch sie faszinieren in der Beobachtung.
Klima
Stabschrecken sind langsame Klettertiere ohne allzu großen Bewegungsdrang. „Sie brauchen ein hohes Glasterrarium“, sagt Weissenbacher. Die Wände sollen 60 cm bis 80 cm messen, die Grundfläche mindestens 40 cm Mal 40 cm, das dreifache ist für Bewohner wie Beobachter besser. Als Einstreu eignen sich zerriebene Kokosnussschalen, das begünstigt ein gutes Mikroklima – sofern das Granulat regelmäßig befeuchtet wird. Der Boden kann aber auch frei bleiben. Damit ist der Lebensraum der Stabschrecken noch einfacher zu reinigen. Der geruchlose Kot soll alle vier bis fünf Tage entfernt werden.
Stabschrecken leiden unter schlechtem Klima. Der Standort des Behälters muss sorgfältig gewählt werden. „Das Glasterrarium darf keinesfalls überhitzen. 22C bis 24C sind optimal“, erklärt der Experte. 28C sind das Maximum. Im Zweifelsfall steht der Behälter an einem kühleren Platz. Lüftungsschlitze sollen sich öffnen und schließen lassen. Stabschrecken vertragen keine stickige Luft, Schimmel überhaupt nicht. „Es ist gar nicht so leicht, die Luftfeuchtigkeit auf 60 bis 70 Prozent zu halten. Man sprüht am besten einmal am Tag sehr warmes Wasser mit einem feinen Blumenspritzerl auf die Blätter“, sagt der Insekten-Spezialist. Dann können die Tiere die Tropfen auch trinken. Bei offenem Wasser besteht die Gefahr des Ertrinkens.
Gespenst- und Annam-Stab-Schrecken knabbern gern an Brombeer- und Himbeer-Blättern. Dieses Futter soll spätestens nach drei Tagen frisch angeboten werden – in einer zweiten Vase oder einem zweiten Steckschwamm. Die Stabschrecken wechseln dann selbst von den abgeweideten zu den neu gewässerten Blättern. „Die Nahrungsspezialisten fressen oft nur eine Pflanze und sie brauchen diese grünen Blätter auch im Winter“, sagt Weissenbacher und rät dringend zur Quellenrecherche vor Kauf des Heimtieres. Zumindest Brombeersträucher sind immergrün, doch die Bestände begrenzt. Der Handel bietet kein derartiges Grünzeug an. Die Selbstversorgung mit angesprühten, eingefrorenen Blättern ist platzaufwendig. „Efeu passt für viele Arten“, weiß der Experte: „Das Problem der Mangelressource Nahrung ist zu lösen.“ Also: Ab an die Hecke.
Stabschrecken daheim faszinieren nicht nur in voller Größe – Australische Gespenstschrecken werden in ihren maximal 14 Lebensmonaten bis zu 14 cm lang, Annam Stabschrecken erreichen an die elf Zentimeter: „Die Eier sind ganz cool. Es gibt sie in verschiedenster Optik“, sagt Insekten-Experte Anton Weissenbacher aus dem Tiercoach-Team.
Stabschrecken lassen sich einfach züchten, auch das begeistert Heimtierhalter. Ist kein Männchen vorhanden – sie kommen weitaus seltener vor als Weibchen –, erfolgt die Fortpflanzung durch Jungfernzeugung: Die Dauerbrüterinnen legen ohne Paarung und fremde Befruchtung sechs bis acht Eier täglich. Der Nachwuchs schlüpft je nach Temperatur zwei bis sechs Monate später. Man muss immer wieder Eier wegwerfen oder, wenn man sie verschenken will, auf ein feuchtes Substrat legen. Rasante Vermehrung macht die Aufzucht aller Jungen unmöglich.
Der Nachwuchs schaut selten von Beginn an so aus wie ausgewachsene Tiere. Er muss sich erst ein paar Mal häuten. dabei vollbringt die Natur – wenn notwendig – ein weiteres Wunder: „Verliert die Stabschrecke ein Bein oder wirft sie eine Extremität ab, regeneriert sich das bei der nächsten Häutung“, sagt der Experte. Die leicht verletzbaren Insekten sind durch ihre Tarnung nahezu perfekt vor Fressfeinden geschützt. Ihr Abwehrsekret ist für Menschen ungefährlich.