Leben/Gesellschaft

52 Seen, ein Jahr: "Schwimmen hat etwas Heilendes"

"Ich sehne mich nach dem Eis. Danach, wie das eisige Wasser mir in die Füße schneidet. Nach dem unermesslichen Schwarz des Sees, wenn er am kältesten ist. Dann bedeutet Schwimmen Kälte und Schmerz und Hochgefühl."

Es ist ein warmer Sommertag in Berlin, als Jessica J. Lee diese Zeilen schreibt. Sie zieht ihren Badeanzug an, ein Kleid darüber, ein Handtuch hat sie in ihrem Rucksack verstaut. Wie viele Berliner macht sie sich auf den Weg zu einem der rund 3000 Gewässer im Brandenburger Land. Anders als andere Badegäste sucht sie aber keine Entspannung am See. Lee möchte im Wasser vor allem eines: Zu sich selbst finden. Die Seen in und um Berlin sollen ihr dabei helfen. Sie beschließt, jede Woche einen neuen See auszuprobieren. Durch 52 wird sie in nur einem Jahr geschwommen sein. Damit will sich die gebürtige Kanadierin auch ihrer Angst vor naturbelassenen Gewässern stellen. Ihre Erfahrungen schreibt sie auf.

"Meine Rahmenbedingungen waren einfach: kein Auto, kein Neopren. Gelegentlich würde ich Freunde mitnehmen", erklärt die Autorin in "Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin". Ein Selbstprojekt, das Lee an ihre Grenzen bringt – und gleichzeitig ihre Rettung aus einer mehrmonatigen Depression ist.

Wasser als Kraftquelle

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Als Lee für ein Forschungssemester von London nach Berlin zieht, hat sie eine Scheidung hinter sich. Der Umzug soll einen Wendepunkt in ihrem Leben bringen, sie will Abstand von persönlichen Krisen gewinnen. Es wird ein Aufbruch zu neuen Ufern – im wahrsten Sinne des Wortes. Die studierte Umwelthistorikerin möchte ihre Doktorarbeit in Berlin über Landschaften und deren Einfluss auf Menschen schreiben. Am Ende ist sie es selbst, die die umliegende Seenlandschaft zur Selbsttherapie einsetzt: "Als könnte das Wasser der Seen meine Trauer und meine Angst wegsprengen. So beschloss ich, ein Jahr lang zu schwimmen – in der Hoffnung, einen versteckten Vorrat an Freude und Mut in mir zu entdecken", schreibt sie. Den Weg dorthin dokumentiert Lee in einem Tagebuch. Sie berichtet von der Anreise zu unterschiedlichen Seen. Meistens fährt sie mit dem Rad, bei größeren Distanzen steigt sie auch in die S-Bahn. In den heißen Sommermonaten wird sie oft von Freunden begleitetet. Im Winter hingegen, wenn die Berliner Luft eisig ist und die Sicht vernebelt, bleibt ihr treuester Begleiter ein kleiner Hammer, mit dem sie das Eis aufbricht, um im klirrend kalten Wasser zu baden.

Diese Momente sind schmerzhaft – und gleichzeitig der größte Genuss für die Schwimmerin: "Ich bin verliebt in die Kälte und das Eis! Einerseits bekommt man dadurch einen Endorphinrausch, aber ich mag es auch, dass ich den See dann für mich alleine habe. Niemand sonst wagt sich im Jänner ins Wasser." Ohne zu zittern hockt Lee auf dem zugefrorenen See, und beginnt mit ihrem kleinen Hammer ein Loch in die Eisschicht zu schlagen. Sie hämmert und hämmert, bis das Wasserloch groß genug ist, um darin einzutauchen. Schwimmen im Eis sei reine Übungssache, die man trainieren könne, erklärt sie. Länger als zehn Minuten hält aber auch Lee nicht durch.

Eine Liebesgeschichte

Die Autorin ist verliebt in das "filigran gewebte Muster" der Seen und Flüsse in und um die deutsche Hauptstadt. Sie beschreibt den magischen Moment, in dem sie das Wasser zum ersten Mal aus der Ferne entdeckt und wie es sich beim Schwimmen Zug um Zug seidig an ihre Haut schmiegt. Ihre Angst scheint wie verflogen. "All die positive Erfahrungen haben mich überzeugt. Schwimmen hat etwas Heilendes", sagt sie.

Poetisch und melancholisch erzählt Lee von ihren Begegnungen mit den Seen. Jeder einzelne von ihnen habe eine besondere Wirkung auf sie: "Jeder See fühlt sich anders an. Entweder im Wasser, durch das Licht oder die Form des Ufers. Seen halten auch Geschichten und Emotionen an einem Ort fest", ist die Wahlberlinerin überzeugt. Auch historische Hintergründe spielen eine Rolle. Binnengewässerkunde, die Limnologie, sei für eine Schwimmerin eine Art Schlüssel. Ein Mittel, die Seen lesen zu lernen. Jeder habe einen anderen Charakter. Was ihn ausmacht, sind Boden, Wasser und alle Lebensformen, die ihn bewohnen.

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Lee beschreibt Seen so, wie andere von ihren Romanzen schwärmen: "Sie wurden zu Lichtblicken in der Landschaft, großzügig, beständig und unermesslich schön." Auf einen Lieblingssee möchte sie sich nicht beschränken. Doch ihr letzter, der Hellsee, rund 40 Kilometer nordöstlich von Berlin, ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Er sei der magischste gewesen – vielleicht auch, weil er der letzte war. Alles war perfekt für die Schwimmerin: Das Wetter, das Wasser, die Stille des Tages.

Aber was macht es mit einem, wenn man ein Jahr lang bei Wind und Wetter durch Seen gleitet? Von allen Problemen konnte sich Lee nicht freischwimmen, aber aus dem Wasser eine neue Perspektive gewinnen, erzählt sie: "Es hat mich gelehrt, mit mir selbst nicht so streng zu sein und den Gedanken loszulassen, wie ich sein sollte. Das war unglaublich befreiend." Mit den Geistern aus ihrer Vergangenheit habe sie nach dem Projekt besser zu leben gelernt: "Das Schwimmen durch unterschiedliche Landschaften hat mich gelehrt, sie zu akzeptieren und die Erinnerungen und den Schmerz willkommen zu heißen."

Von Kanada nach Berlin

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Jessica J. Lee wuchs in Kanada auf. In Berlin soll ihr Schwimmen aus einer Depression helfen – der Start eines spannenden Selbstprojekts: Ein Jahr lang erkundet Lee jede Woche einen neuen See, auch im Winter bei Schnee und Eis. 52 sind es am Ende. Ihr erstes Buch „Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin“ entsteht eher zufällig, als ein Verlag auf ihr Schwimmprojekt, das sie online dokumentiert, aufmerksam wird. Angereichert mit Gedichten und Auszügen aus Theodor Fontanes „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, beschreibt die kanadisch-britische Autorin malerisch jeden einzelnen See und widmet sich auch der Limnologie. Ein faszinierender Bericht über die heilende Kraft der Natur und den Prozess der Selbstfindung.

Buchtipp: „Mein Jahr im Wasser. Tagebuch einer Schwimmerin“ von Jessica J. Lee, Berlin Verlag, 18,50 Euro.