Provence: Wie aus einem Rheumaleiden eine WM-Disziplin entstand
Von Barbara Beer
Ein Sport für alte Männer? Enzo lacht unter seiner Schirmkappe und der Schalk schaut ihm dabei aus den Augen. Was für eine Frage! Pétanque, das ist ein Sport für alle. Spielen ja auch alle, man braucht sich bloß umschauen hier auf dem Sportplatz.
Von der Schwierigkeit, auf einem Bein zu stehen
Enzo, eigentlich: Vincenzo Balbi, hat selbst schon mit dreizehn begonnen, Metallkugeln sachte in den Sand zu werfen, auf dass sie möglichst nahe an der Zielkugel, dem cochonnet (Französisch für Schweinchen) landen mögen. Heute ist Enzo Ende fünfzig, es ist also eine Weile her, dass ihn seine Onkel damals an der italienischen Amalfiküste in das künftige Spiel seines Lebens einführten.
Als junger Mann kam Enzo von Italien hierher nach La Ciotat, die kleine Hafen- und Industriestadt östlich von Marseille, wo es Schiffswerften und Arbeit gab. Er sprach kein Wort Französisch. Aber er konnte Pétanque (auch wenn man bei ihm zu Hause „Boccia“ dazu sagte).
Enzo ist heute Präsident des Vereins „Le Berceau de la Pétanque“. Bedeutet so viel wie „die Wiege des Pétanque-Spiels“. Und übertrieben ist das gewiss nicht, schließlich wurde das Wurfspiel tatsächlich hier im provenzalischen Ort La Ciotat erfunden, wo es neben Enzos Verein (dem wichtigsten!) noch etliche weitere „Boulodromes“, also Boule-Spielanlagen gibt.
Denn Pétanque, bei dem Kugeln in den Sand oder Kies geworfen werden – erst eine kleine aus Holz, dann mehrere große aus Metall – gehört zu den Boule-Spielen: Boule bedeutet Kugel, im „Boulodrome“ also geht’s um Kugeln. Aber eigentlich um weit mehr als das. Es geht um ein Lebensgefühl. Pétanque, das ist Sonne, Sand und Pastis.
Wie es zu der Sportart kam
Erfunden wurde das Spiel im Jahr 1910 von einem Kaufmann namens Jules Hugues, genannt „Lenoir“ (auch: „Le Noir“), dessen Bronzefigur im Stadtgarten unweit von Enzos Verein über das Pétanque-Geschehen von La Ciotat wacht. Seine Geschichte wird hier so gut wie überall erzählt, natürlich auch im Museum der Stadt und jedes Mal mit der einen oder anderen Variante. Die wahrscheinlichste Version der Stadtlegende berichtet vom heute noch populären Boule-Spiel „Jeu Provençal“, wo man drei Anlaufschritte machen und beim Werfen der Kugel auf einem Bein stehen bleiben musste. Jules Lenoir aber tat sich schwer damit, denn er litt an Rheuma.
Anreise Austrian Airlines fliegt dreimal pro Woche von Wien nach Marseille (austrian.com) Von dort kann man z. B. mit dem Zug (TER Provence-Alpes-Côte d’Azur) nach La Ciotat fahren
Übernachten
Zimmer mit Aussicht – im Herzen des Hafens: bestwestern-laciotat.com
Erkunden
Der Nationalpark Calanques liegt zwischen den Gemeinden Marseille, Cassis und La Ciotat, die durch Wanderwege verbunden sind. de.destinationlaciotat.com, france.fr
Kurzerhand erfand er seine eigene Spielart. Er verkleinerte das Spielfeld und spielte beidfüßig stehend, „pieds tanqués“, oder Provenzalisch ped tanco – Pétanque war geboren. 1910 fand das erste Turnier mit den neuen Regeln statt. 1945 wurde der französische Pétanque-Verband gegründet, heute ist das Spiel eine WM-Disziplin. Und Enzo? Er bereitet schon das nächste Turnier vor.