Leben/Reise

Mit Rad und Schiff im Hinterland: Chris Cummins erkundet Venetien

An einem Frühlingstag, mit einem Wind, so frisch und belebend wie  Prosecco, fahre ich über einen schnurgeraden Schotterradweg, der jüngst auf einer stillgelegten Nebenbahnstrecke nach Treviso eröffnet wurde. Der Weg glänzt weiß im Sonnenlicht, das durch die Baumkronen am Flussufer schimmert. Aus der Schwemmebene erhebt sich der weiße Gipfel des Monte Grappa. Venetien, das Land der Flüsse, Bauernhäuser und aristokratischen Villen, das Ernest Hemingway so liebte. Der Schriftsteller hat Venetien romantisiert, später sentimentalisiert. Ich habe die Verführung sofort verstanden.

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Ich reise langsam. Slow Flow, eine Allianz von Reiseveranstaltern,  hat mich hierher gebracht. Die Idee: Touristen sollen das Hinterland Venedigs kennenlernen; der Schlüssel dazu: Entschleunigung. Die mäandrierenden Flüsse, die in der Lagune münden, haben Venetien geprägt, ihnen soll man  folgen – auf dem Wasser mit dem Boot oder daneben mit dem Rad. Ich starte per Rad, es ist mein Lieblingsfahrzeug. Mit Guide Silvia bin ich nicht allein. „Ich schätze die Mischung aus Kultur und Natur. Beim Radeln kann man anhalten, die Natur wahrnehmen. Der beste Weg, um zu verstehen, wie wir hier leben.“

Frischer Fisch in Treviso

Die Stadt Treviso ist ein Genuss. Wie Venedig wird sie von Kanälen dominiert, aber diese klaren Gewässer fließen rascher und sind voller Fische. Der Sile, der durch Treviso fließt, wird von „tausend Quellen“ in der Region von Casacorba gebildet. Mit 95 Kilometern ist der Sile der längste Quellfluss Italiens, die Reinheit bedeutet, dass Einheimische den Fisch in Treviso  aus dem Fluss fangen. Auf einer Insel nahe des Zentrums gibt es einen geschäftigen Fischmarkt.

Versunkene Kähne

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Nach Treviso verläuft der Radweg teils auf einem Landstreifen zwischen Hauptfluss und Altwasserseen, die sich durch den gewundenen Lauf gebildet haben  – die Heimat von Blässhühnern, Reihern und Schildkröten. Sie sitzen auf etwas, das aussieht wie Brustkörbe halb untergetauchter Dinosaurier. Es ist der Burci-Friedhof, eine letzte Ruhestätte für die langen Kähne, die jahrhundertelang Waren flussabwärts nach Venedig transportiert hatten. Früher wurden die Kähne von Lasttieren gezogen, die über die Wege trotteten, auf denen ich jetzt radle. Vor sechzig Jahren war damit Schluss, die letzte Flotte  wurde einfach versenkt. Jetzt verrotten die Kähne und bieten Schildkröten Unterschlupf.

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Sonnenaufgang in Venedig

Dabei bin ich erst an diesem Morgen in Venedig angekommen. Venedig ist stressig und unerträglich überfüllt, aber nicht um 5.50 Uhr, als ich nach einer schlaflosen Nacht im Zug ausgespuckt werde. Bei Sonnenaufgang gehört Venedig nur mir, den Müllsammlern und den Obstverkäufern, die ihre Stände aufbauen. Ein erster Espresso in einem Arbeitercafé, himmlisch.

Entlang des Flusses Brenta

Dann ist es Zeit, aufs Land zu fahren. Ich treffe Gianluca, einen lebensfrohen Venezianer mit Bart und Weihnachtsmannfigur, die er gnadenlos in ein neongelbes Radtrikot gezwungen hat. Gianluca ist Mitbegründer von Slow Flow.  Er will Besucher über die Region verteilen, wo sie in Gasthäusern schlafen und lokale Produkte essen können. „Ich liebe Venedig, aber es gibt außerhalb  viele Schätze!“

Etwa entlang der Brenta, jahrhundertelang die Hauptverkehrsader zwischen Venedig und dem Festland. Aristokratische Familien bauten opulente Sommerresidenzen an den Ufern, etwa die prächtige Säulenvilla Foscari. Ohne die Flüsse gäbe es Venedig nicht.

"Wenn man auf der Brenta radelt, fühlt es sich an wie eine Zeitreise in die Vergangenheit“, sagt Francesca Piccolo, mein Guide für diesen Abschnitt meiner Reise. Ernest Hemingway war auf jeden Fall angetan. „Er dachte an den langen Abschnitt der Brenta, wo die großen Villen waren, mit ihren Rasenflächen und ihren Gärten und den Platanen und den Zypressen“, schrieb Hemingway über seinen streitsüchtigen Helden Richard Cantwell  in seinem melancholischen Midlife-Crisis-Roman "Über den Fluss und in die Wälder": „Ich möchte dort draußen begraben werden, dachte er.“

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Reden wir kurz über diese Villen. In der Nähe der Lagune findet man die prächtige weiße Säulenvilla „Villa Foscari“, die von Palladio erbaut wurde. Jeder nennt die Villa „La Malcontenta“, nach einer ehemaligen Bewohnerin, die wegen Ausschweifungen aus Venedig verbannt wurde. Sie soll immer noch dort spuken. Weiter flussaufwärts in Stra befindet sich die Villa Pisani, das einst von Napoleon und dann von den Habsburgern bewohnt wurde. Nicht weit entfernt ist die Villa Foscarini Rossi, die heute ein ziemlich faszinierendes Museum beherbergt, das Luxusschuhen gewidmet ist.

Die Republik von Venedig hat die „Riviera del Brenta“ ihre prächtigen Villen gegeben. Das scheint nur fair. Zusammen mit ihren Schwestern, der Sila und der Piave, hat die Brenta die Republik zu ihren Entstehen verholfen.  Dieses Flusstrio brachte über lange Jahrhunderte hinweg seine unsichtbare Fracht aus Sedimenten, Kies, Sand und all dem, was der Reiseschriftsteller Jan Morris als „verschiedenen Schnickschnack der Natur“ bezeichnete. Dieses Material, das aus den Bergen und den Ebenen transportiert wurde, sank auf den Grund, als es auf die kreisförmigen Strömungen der Adria traf, und bildete schließlich, die Inseln und Kanäle der Lagune.

Kurz gesagt, ohne diese Flüsse gäbe es Venedig nicht.

Um diese Geschichte am besten zu verstehen, ist das charmante kleine archäologische Museum in Altino ein Besuch wert. Heute is Altino ein Dörfchen, aber es ist der Standort der wichtigen antiken Stadt Altinum. Nach dem Untergang des römischen Reiches, wurden die Bewohner dieser Stadt immer wieder von Barbaren angegriffen. Verzweifelt suchten sie Sicherheit auf den schlammigen Inseln der Lagune. Als letzte Etappe meine Reise wollte ich diese Pionieren folgen.

Weiter geht es mit dem bärtigen Francesco

Hier ist für mein Rad Endstation. Glücklicherweise ist Kapitän Francesco zu Hilfe, er fährt mich mit seinem Boot durch seichte Küstengebiete weiter. Er macht sich Sorgen: Die Ökologie verändert sich dramatisch, der Tod der Lagune würde den Tod Venedigs bedeuten.

Aber fröhlichere Sehenswürdigkeiten stehen bevor. Über dem quadratischen roten Turm der weitgehend verlassenen Insel Torcello, kommt die Insel Burano in Sicht; Das farbenfrohes Burano ist ein kindliches Fantasiedorf zwischen den Brauntönen des Wattenmeeres.

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Nach einem Berg gebratener Fische und eine Mini-Lagune von Weißwein, blicke ich von dort zurück nach Venedig. Ein kalter Wind an diesem klaren Tag schärft die Umrisse von La Serenissima und lässt die Stadt unwahrscheinlich nahe erscheinen.

Ja, die Stadt Venedig ist randvoll und manchmal wirkt sie arrogant. Aber auf meine Reise habe ich mehr über ihr zerbrechliches Ökosystem gelernt und sie besser verstanden. Ihr Verwundbarkeit macht sie um so wertvoller. Venedig bleibt blendend. 

Anreise Mit dem Nachtzug je nach Einstiegsstelle nach Venedig oder  Treviso Centrale. oebb.at

Slow Flow Reisen zwischen Land und Wasser bietet die Veneto Waterways Experience: slow-flow.it/de

4,9 Mio. Einwohner hat die norditalienische Region Venetien, die sich von den Dolomiten bis zur Adria erstreckt

Auskunft veneto.eu