Raus aus der Alkoholsucht: "Ich habe nichts mehr zu verlieren"
Von Gabriele Kuhn
Kurzatmig ist er – und ein wenig verschwitzt: „Ich komme gerade vom Kompostieren.“ Werner Benner (Name von der Red geändert) mag es, im Garten des Anton-Proksch-Instituts (API) in Wien- Kalksburg zu arbeiten. Er setzt sich hin, lehnt sich zurück, verschränkt die Arme. Der Blick ist fokussiert, sein Ausdruck gewählt.
Zum fünften Mal ist er nun hier, erzählt der alkoholkranke 45-Jährige. „Ich war 14, als ich das erste Mal mit Alkohol in Kontakt kam. Verschiedene Erlebnisse führten dazu, dass ich öfter trank, ich litt an Depressionen. Alkohol war mein Medikament.“ Erst Bier und Wein, dann Wodka, zuletzt Weißwein, vier Liter am Tag. „Das deckelte alles zu“. Herumstudiert hat er damals, nach der Matura, er wurde Koch: „Während der Arbeit trank ich nie, aber danach stand das erste Achtel sofort am Tisch. Meine Belohnung.“ Gesellschaftstrinker, nein, das war er nicht: „Ich bin der isolierte Trinker.“ Dass er alkoholabhängig ist, war ihm lange nicht bewusst: „Man merkt nicht, dass man ein Problem hat, Trinken ist gesellschaftlich ja sehr akzeptiert.“ Weder die Sucht noch die Depression konnte er sich eingestehen. Auch nicht, als ihm Freunde rieten, endlich einen Arzt aufzusuchen.
Verdrängte Krankheit
„Sich einzugestehen, Alkoholiker zu sein, ist der schwierigste Schritt. Die meisten Patienten, die zu uns kommen, haben Jahre versucht, ihre Krankheit zu verdrängen oder sie zu bagatellisieren“, sagt der Suchtexperte Roland Mader vom API. Typisch dafür sind Sätze wie: „Ich kann aufhören, wenn ich möchte“, „Es ist nicht so schlimm“. Die Grenzen zwischen Alkoholabhängigkeit und Alkoholmissbrauch verschwimmen oft. Man trinkt täglich, manchmal zu viel. Na, und?
Alkohol macht glücklich, deckt Probleme zu. Stress, Einsamkeit, Leere. Doch wie viel ist zu viel? An die eine Million Österreicher betreiben Alkoholmissbrauch, trinken konstant zu viel, abhängig sind sie – noch – nicht. „Diese Menschen möglichst früh in Behandlung zu bekommen, wäre unglaublich wichtig. Denn derzeit erreichen wir nur 90 Prozent jener, die eine Therapie benötigen würden.“ Die Gesellschaftsdroge ist tückisch: „Sie macht langsam süchtig. Der Übergang vom problematischen zum abhängigen Konsum ist fließend, entwickelt sich kaum merklich, braucht oft 15 bis 20 Jahre“, sagt Mader. Abhängig vom Trinktypus, davon gibt es – grob – zwei: den klassischen Spiegeltrinker, der permanent trinkt. Den Rauschtrinker, der nicht täglich konsumiert, aber wenn, dann in Richtung Vollrausch. „Die körperliche Abhängigkeit ist beim Spiegeltrinker am stärksten, er braucht Medikamente und eine Entzugsbehandlung.“
Auf Entzug
Herr Benner weiß, was Entzug heißt: „Das ist nach sieben Tagen erledigt, Medikamente ersetzen den Alkohol, man ist etwas dumpf, aber das Zittern und Schwitzen ist weg. Heilung für den Körper.“ Suchtexperte Mader skizziert diese Zeit als eine der härtesten: "Sie müssen sich vorstellen, dass sie weg von ihrem gewohnten Umfeld sind, die Substanz ist nicht mehr da, ihre psychische Wirkung fehlt. Spätestens jetzt muss man sich eingestehen, dass man Alkoholiker ist. Ein sehr schwieriger Schritt."
Aber das ist noch nicht alles, denn die nächste große Herausforderung folgt gleich danach – die „Stabilitätsphase“. Benner erzählt: „Wie viele andere hier, habe ich nicht begriffen, was das bedeutet. Ich dachte mir, ich bin entzogen, kann Bäume ausreißen. Aber das Problem ist: Wie geht es weiter?“ Viele unterschätzen das, kehren zu schnell wieder ins alte Leben, in alte Muster zurück – und fangen erneut an, zu trinken. „Ein Drittel der Patienten bleibt abstinent. Ein Drittel wird rückfällig. Das dritte Drittel erlebt ein Auf und Ab, Zeiten der Abstinenz wechseln sich mit Trinkphasen ab“, sagt Mader. Es sind meist nicht die großen Probleme, die zum Rückfall führen. „Viele überschätzen sich einfach, fühlen sich gesund und denken, da werde ich doch ein Glaserl trinken dürften. Sie sind dann schnell dort, wo sie waren. Das ist Sucht. Und die erfordert meist strenge Abstinenz.“
Würde man Betroffene aber bereits in der Phase des Missbrauchs erreichen, wäre kontrollierter Konsum möglich. Doch die Vorstellung, sich wegen eines Alkoholproblems in Behandlung zu begeben, ist für viele mit Ängsten und Vorurteilen verknüpft, das Thema selbst bleibt hochstigmatisiert. „Die Patienten, die zu uns kommen, sagen schon nach einer Woche: Hätte ich nur gewusst, wie das ist, wäre ich schon früher gekommen“, erzählt Mader.
Ressourcen entdecken
Werner Benner will diesmal drei Monate in der Suchtklinik bleiben, danach täglich in die ambulante Therapie kommen. „Ich habe nichts mehr zu verlieren.“ Jetzt geht es darum, in kleinen Schritten ein neues Leben aufzubauen. „Dabei hilft mir, wenn ich geistig gefordert werde. Eine gute Therapie gibt keine Ratschläge, sondern lässt einen selbst die Fragen stellen.“ Die Frage „Was hat mir früher einmal Spaß gemacht?“, ist eine davon. Zuletzt gab es in seinem Leben nur mehr Trinken und Fernsehen. Alle Leidenschaften und Stärken – verschüttet. Ziel ist es, verloren gegangene Ressourcen wiederzuentdecken und die damit verknüpfte Lebensfreude. Davon hängt der Verlauf dieser chronischen Erkrankung maßgeblich ab. Viele Suchtpatienten empfinden keinen Selbstwert mehr und keine Hoffnung. Es geht um Wertschätzung der eigenen Person - darum, dass man das, was man ist und tut, anerkennt. "Ich habe mich so oft geniert, wenn ich wieder rückfällig geworden bin und wieder in Therapie musste", erzählt Herr Benner: "Ich dachte: Mein Gott, jetzt bist du schon wieder da. Eine Ärztin hat mir dann folgendes auf den Weg gegeben: Sie nehmen doch immer wieder etwas mit, von Mal zu Mal, denken Sie daran." Aber jetzt. "Jetzt möchte ich wirklich vom Alkohol loskommen, es ist mir sehr ernst."
Wir gehen in die Kunstwerkstatt, wo einige Patienten konzentriert malen und werken. Ein Mann macht Schmuck. Eine Frau arbeitet an wunderschönen Engelsbildern: „Geschenke für meine Neffen, Nichten, Freundinnen. „Wichtig ist, dass der Tunnelblick, den Alkoholkranke in Bezug auf das Suchtmittel entwickeln, verändert wird und das Schöne wieder wahrgenommen werden kann“, sagt die Aktivtherapeutin Selina Franzke. Die Arbeiten werden sehr oft an Angehörige oder Freunde verschenkt, sie drücken Dankbarkeit aus, für die Unterstützung und Begleitung. "Wir haben auch eine Gruppe zum Genusserleben, wo es darum geht, sich etwas zu gönnen und Genuss wieder bewusst zu erleben, statt in Schuldgefühle und Selbstbestrafung zu gehen. Die Patienten lernen, den Blick für das Schöne zu öffnen und darüber nachzudenken, was sie davon für sich mitnehmen können, im Hinblick auf das Leben nach ihrem Aufenthalt hier", sagt Selina Franzke. Viele mögen es, im Garten etwas zu tun, etwas pflanzen, in der Erde arbeiten. "Die Idee dabei ist es, etwas wachsen zu sehen, etwas aus dem Nichts entstehen zu lassen. Das ist die Metapher der Gartentherapie", sagt Roland Mader.
Herr Benner hat vor allem das Gitarrespielen wieder für sich entdeckt, träumt von einer Band. Er kocht auch noch sehr gerne, aber nicht mehr professionell. Schwimmen taugt ihm ebenfalls. "Für all das braucht man halt einen Antrieb, es sind noch viele kleine Mosaiksteinchen und Schritte. Aber die Etappenziele sind wichtiger, als dauernd total streng mit sich zu sein und sich zu bestrafen." Er blickt auf die Rotbuche im Garten der Suchtklinik: „Schreiben Sie bitte, dass jeder stolz sein kann, der es hier einmal probiert hat. Und dass sich niemand für diese Krankheit zu genieren braucht.“
Dialogwoche Alkohol
370.000 Menschen gelten als alkoholkrank, eine Million Österreicher haben einen problematischen Umgang mit Alkohol. Bis 26. Mai findet in ganz Österreich die Dialogwoche Alkohol statt. Die Menschen sollen angeregt werden, ihren Alkoholkonsum zu reflektieren – mit vielen Veranstaltungen und Info-Angeboten in allen Bundesländern. Die Dialogwoche Alkohol wird von der ARGE Suchtvorbeugung veranstaltet. Info und Selbsttest: dialogwoche-alkohol.at
Anton-Proksch-Institut in Wien-Kalksburg
Das Anton-Proksch-Institut ist, unter der ärztlichen Leitung von Univ.-Prof. Michael Musalek, eine der führenden Suchtkliniken Europas. Der Experte prägte die hier praktizierte „Orpheus-Methode“ maßgeblich mit. Dabei geht es um die Neu- und Wiederentdeckung der eigenen Lebenskräfte, damit das Suchtmittel an Verführungskraft verliert. Das Institut ist seit Kurzem auch auf Facebook.