Leben/Gesellschaft

"Vom Ich zum Wir"

Zum Jahresbeginn beantwortet die Soziologin und Germanistin Christiane Varga Fragen zu einem brisanten Thema, das uns auch 2016 begleiten wird. Bange die Frage: Was kann die Zivilgesellschaft leisten? Varga, die beim bekannten Soziologen Ulrich Beck ("Die Risikogesellschaft") an der Universität München studiert hat und seit vier Jahren am Wiener Zukunftsinstitut arbeitet, zeigt sich im Interview durchaus optimistisch. Sie schöpft dabei aus einer neuen Studie über die Zukunft der Gemeinnützigkeit.

KURIER: Zuerst noch einmal ein Blick auf 2015: Gibt der "Train of hope", die privat organisierte Flüchtlingshilfe am Wiener Hauptbahnhof, Hoffnung?

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Christiane Varga:Wenn Menschen Menschen helfen, gibt das immer Hoffnung. Doch ist es jetzt wichtig, die Aufgaben auf mehrere Schultern zu verteilen, den Schwung all der Ehrenamtlichen mitzunehmen und gemeinsam mit Hauptamtlichen neue Strukturen zu schaffen, um so effizient wie möglich und so kräftezehrend wie nötig zu handeln. Das ist eine große Herausforderung, weil sich bestehende Organisationen öffnen müssen, um neue Konzepte zu ermöglichen.

Gibt es solch privat organisierte Hilfswerke auch anderswo?

Inzwischen gibt es viele Initiativen, in allen Bereichen: Soziales, Gesundheit, Bildung, Umwelt und Kultur. Besonders gut gefällt mir die Initiative "Let’s do it", die in Estland gestartet wurde und aus der eine weltweite Bewegung wurde: Nach einem Aufruf in Internet und via Medien haben sich 50.000 Freiwillige gemeldet, um an einem Tag in den Wäldern Estlands 10.000 Tonnen Müll zu sammeln. Dem Staat hätte die selbe Fördermenge viele Millionen Euro gekostet. Und er hätte für diese Aufräumarbeiten sieben Jahre lang gebraucht.

Klimaschutz in der Event-Gesellschaft?

Wenn ich in der Gemeinschaft etwas Sinnvolles unternehme, kann und darf das auch Spaß machen.

Gemeinnützigkeit soll laut Ihrer aktuellen Studie in Zukunft einen vierten Sektor bilden: neben Staat, Markt und Non-profit-Organisationen. Was wird in diesem Sektor konkret geleistet?

Vorweg: Es geht dort um eine neue Haltung, um Selbstermächtigung. Wir lösen uns da vom Entweder-oder und tauchen ein in ein Sowohl-als-auch. Die Kernleistung des vierten Sektors ist das kluge Vernetzen von Alltagsfragen in allen Bereichen. Es geht um eine neue Haltung. Gutes tun und dabei Geld verdienen muss sich nicht ausschließen. Nehmen wir ein Beispiel aus Detroit: Veronika Scott hat dort für Obdachlose einen Mantel entworfen, der auch als Schlafsack funktioniert. Ehemalige Obdachlose schneidern ihn. Der Mantel ist chic, Scott will ihn daher nicht mehr nur an Bedürftige verschenken, sondern auch verkaufen. Beim Kauf eines Mantels muss ein zweiter gespendet werden.

Humanitäre Hilfe künftig abseits der herkömmlichen Schienen?

Das ist der Punkt. Die Leute wollen sich immer seltener für lange Zeit an eine Organisation binden, sondern dort helfen, wo sie es im Moment für richtig erachten und wo es in ihren individuellen Zeitplan passt: Der Student in seinen Semesterferien, die Erwerbstätige zwei Mal pro Woche neben der Arbeit.

Die großen Probleme Europas wie die angemessene Betreuung von Flüchtlingen, von alten Menschen, Kindern, Arbeitslosen: Kann das dieser vierte Sektor alleine stemmen?

Er wird es müssen. Und ich bin da optimistisch: Das sektorenübergreifende Denken und Handeln bilden die Grundlage für die Weiterentwicklung der Freiwilligenarbeit hin zu einem vierten Sektor, der ganzheitlich, als Schnittmenge aller drei Sektoren aufgestellt ist. Wir müssen uns heute von dem Gedanken verabschieden, dass Stabilität Starrheit bedeutet. Stabilität wird in Zukunft mehr und mehr durch Wandel erzeugt. Und genau dafür sind die flexiblen Strukturen im vierten Sektor prädestiniert.

Haben somit die politischen Parteien und deren Vorfeldorganisationen als Plattformen für kreative und engagierte Leute ausgedient?

Transparenz ist ein großes Thema der Zukunft. Und die bieten gemeinnützige Organisationen eher als historisch gewachsene Institutionen oder Unternehmen.

Und was bedeutet das neue Engagement für die NGOs?

Die müssen sich diesem Wandel ebenso stellen, weil auch sie schwerfälliger geworden sind. In Zukunft wird es noch mehr um Kooperationen gehen, auch mit Akteuren, die sie bisher nicht auf ihrer Rechnung hatten.

Bisher hieß es, dass die Bereitschaft für freiwillig unbezahlte Dienste am Land größer ist als in der Stadt. Neue Studien zeigen nun das Gegenteil. Warum?

Da muss man zunächst differenzieren: In den traditionellen Netzwerken wie Freiwillige Feuerwehr oder Rotes Kreuz ist man am Land noch immer besser organisiert. Anders ist das in den neuen informellen Netzwerken wie zum Beispiel "Polly and Bob" in einem Berliner Stadtteil. Da helfen sich die Nachbarn wieder gegenseitig – als Kommunikationsplattform dient ihnen selbstverständlich das Internet.

Bisher dachten wir auch, dass sich weniger Menschen freiwillig engagieren. Jetzt zeigt sich das Gegenteil. Warum?

Es ist tatsächlich so, dass immer mehr Menschen zu dem Schluss gelangen, dass ausschließlich Karriere-Machen auf Dauer keinen Spaß macht. In einer ausdifferenzierten Welt gibt es auch vermehrt die Sehnsucht, in einer Gemeinschaft etwas zu tun und sich zu verankern. Die möchte man sich aber – anders als die Familie – selbst aussuchen. Der Trend geht vom Ich zum Wir.