Yoko Ogawa: Wenn Poesie auf Mathe trifft
Von Peter Pisa
Als die neue Haushälterin klopft – es ist die zehnte, neun Frauen haben hintereinander das Handtuch geworfen –, öffnet der Professor und fragt:
"Welche Schuhgröße haben Sie?"
"Größe 24." (In Japan ist alles ein bissl anders.)
"Oh, eine würdevolle Zahl! Sie besitzt die Fakultät 4. Wie lautet Ihre Telefonnummer?"
"576-1455."
"Ist das nicht zauberhaft? Das entspricht der Anzahl sämtlicher Primzahlen zwischen 1 und 100.000.000 ..."
"Das Geheimnis der Eulerschen Formel": Wenig geschieht, viel wird über Mathematik gesprochen. Noch dazu fragt der Professor jeden Morgen seine Haushälterin nach ihrer Schuhgröße! Wie viele Verleger würden angesichts eines derartigen Manuskriptes zu schreien beginnen?
Aber von Yoko Ogawas Roman wurden in Japan an die drei Millionen Exemplare verkauft. Inzwischen wurde er in 16 Sprachen übersetzt – ins Deutsche von Sabine Mangold, der wir auch Murakamis "Piercing" verdanken.
Die Zettel
Nie zuvor war aus Zahlen eine solche Poesie geholt worden.
Man entrückt verzückt, obwohl doch bloß zu erfahren war, dass z. B. 1184 und 1210 ein sogenanntes befreundetes Paar sind.
Dazu gibt es eine Geschichte, die dem Zahlenzauber in nichts nachsteht. Jeder Satz schlägt präzise ein und sprüht schöne Funken.
Der namenlose Professor war einst ein Mathematikgenie. Seit einem Autounfall vor 17 Jahren hält sein Gedächtnis immer nur 80 Minuten. Deshalb hat er auf dem Sakko Zettelchen picken: Tablette in Teedose, auf dem Regal links, Einnahme nach jeder Mahlzeit
Und auch: Erläuterungen zu Hyperbelfunktionen, Band IV, Kapitel 1.
Kinder liebt er. Deshalb muss der zehnjährige Sohn der Haushälterin mitkommen, wenn Mama kocht. Der Professor übt einstweilen geduldigst mit dem Buben, den er wegen seines flachen Kopfes Root nennt (Wurzel), Rechnen. Und Baseball liebt er. Baseball ist Statistik, Mathematik.
Was vor dem Unfall 1975 geschah, merkt er sich. Deshalb ist Enatsu sein Baseball-Held geblieben. Jetzt wundert er sich, wenn die Tigers gegen die Giants spielen und Enatsu nicht pitcht. Schrecklich.
Einmal knallt der Professor der eifersüchtig gewordenen Schwägerin, die die Haushälterin rausschmeißen will, die berühmte Formel auf den Tisch: e hoch i mal Pi + 1 = 0. Sofort gibt sie Ruhe. Warum, bleibt zwar ein Geheimnis.
Aber übersetzen wir es ganz naiv: Egal, ob du jetzt auf den Tisch haust, egal, was du jetzt Blödes unternimmst (linke Seite der Gleichung) – am Ende löst es sich ja doch in nichts auf.
Du, ich, alles. Also halt gefälligst den Mund, Trampel!
Herrlich ist Mathematik.
KURIER-Wertung: ***** von *****
Mathe-Bücher: Wie schön ist so ein Zebrastreifen
Das Taschenbuch "Je mehr Löcher, desto weniger Käse" des Spiegel-Redakteurs Holger Dambeck will den Teufelskreis durchbrechen. Selbst Lehrer glauben ja noch immer, ihr Fach sei dazu da, Zahlen in Formeln einzusetzen. Hier wird kreativ gearbeitet. Gerätselt und getrickst, um die Angst vor den Zahlen zu nehmen.
Darum bemüht sich der Gießener Mathematikprofessor Albrecht Beutelspacher seit Jahrzehnten. Ein Volksaufklärer ist er. Sein "Kleines Mathematikum" beantwortet oft gestellte Fragen zum Thema. Beispiel: Warum muss man rechnen lernen?
Erstens: Um beim Einkaufen den Kassenbon überprüfen und beim Einparken eine Raumvorstellung zu haben. Zweitens: Weil man dadurch lernt, Probleme zu lösen bzw. Wesentliches vom Unwesentlichen zu unterscheiden. Drittens: Um Schönheiten der Welt entdecken zu können. Die Symmetrie. So freut man sich sogar über Zebrastreifen und aufgestapelte Teller. Hm.
Fred Vargas – "Die Nacht des Zorns"
Eine große Show: Eingepeitscht wird "Die Nacht des Zorns" mit einem alten Mann, der seiner Ehefrau so viel Brot in den Mund stopft, dass sie erstickt und sich auf ein Rattenliebespaar ausredet.
Dann steht eine halb verhungerte Taube auf der Straße, die Beine fest zusammengebunden.
Zwar wundert sich die Gerichtsmedizin, weil sie die Schnur untersuchen muss. Aber Kommissar Adamsberg nimmt sich in seinem siebenten Roman auch dieser Sauerei an.
... und schon schwebt er weiter. Mit beiden Beinen steht Adamsberg nie auf dem Boden. Sonst würden die Bücher der französischen Archäologin Fred Vargas gar nicht funktionieren.
Denn wie soll ein Polizist, der nicht "drüber"steht, der nicht den Kopf in den Wolken hat und scheinbar unlogisch denkt, das Rätsel der "Wilden Jagd" lösen?
Am Ende reicht dann eh ein irdisches Stück Würfelzucker, um eins, zwei, drei, vier Morde (nahezu im Sitzen, Schauen, Nachdenken) zu klären.
Das ist so ein gewaltiger Unterschied! Die 54-jährige Fred Vargas schreibt zwar – seit drei Jahrzehnten – auch "nur" Krimis. Aber während man sich angesichts der Massenware zunehmend ärgert, gerät man wegen ihrer literarischen Klasse und ihrer Originalität in fast euphorische Stimmung.
Gern gräbt sie Mythen aus (Schwarzer Tod, Transsilvanien ...) und beobachtet, welche Ängste dadurch heute ausgelöst werden. Diesmal muss Adamsberg in ein Städtchen in der Normandie. Sein ganz wichtiger Kollege Danglard – fünffacher Vater, Alleinerzieher, Alkoholiker und Poet – kommt mit; und Adamsberg Sohn ebenfalls. Irgendwer muss ja die verletzte Taube füttern. (Übrigens hat Adamsberg erst kurz davor erfahren, dass es diesen 28-jährigen Sohn überhaupt gibt.)
Jedenfalls sorgt die aus Toten bestehende, Unheil verkündende Armee für einen höchst unterhaltenden Polizeieinsatz.
KURIER-Wertung: **** von *****
Emily Walton – "Mein Leben ist ein Senfglas"
Das hat der Herr Professor nicht ausgehalten. Einmal belehrte er seine Schüler im Gymnasium, fünfte Klasse – und er zeigte ein Foto der Flasche –, dies sei eine Wörtschester Sauce.
"Wuuster!", rief die gebürtige Engländerin reflexartig und bereute es sofort.
Er sagte auch pants, wenn er Hosen meinte (sie dachte eher an Unterhosen), und er bestand darauf, dass Engländer Bohnen und gegrillte Paradeiser frühstücken (sie aß Frosties und Crunchy Nut).
Auf die Schularbeit bekam sie dann nur ein "Gut".
Der Englischlehrer freute sich: "Es reicht eben nicht, wenn man aus Cambridge kommt, wo die besten Unis sind. Man muss Englisch studiert haben! So wie ich!"
In ihrem Debütroman "Mein Leben ist ein Senfglas"erzählt Journalistin und Autorin Emily Walton – Vater Engländer, Mutter Deutsche – die Geschichte ihrer Verpflanzung. Sie war acht, als ihre Familie ins Salzkammergut übersiedelte.
Vergleichsweise war ihre Entwurzelung harmlos.
Allerdings müssen "Heidi" und die "Sumsi" von der Raiffeisenbank ein Kulturschock für sie gewesen sein. Vom Blunzngröstl reden wir lieber gar nicht.
Hier haben wir die nicht klassische Migrationsproblematik von West und West. Das symbolische Glas mit dem englischen Senf ist voller Erinnerungen. In Österreich taugt es nur, um Münzen aufzubewahren oder Zuckerln.
Um beim Senf zu bleiben: Emily Walton gibt ihren nicht einfach nur dazu. Sie hat in dem Buch einen ganz eigenen hergestellt, mit viel Pfeffer, auch mit Tränen und mit Lachen.
Sie fand die Heimat und ihre Sprache und sich selbst letztlich in Wien, wo die 27-Jährige lebt (und wo sie unter anderem auch noch lernen musste, was "gschissen" bedeutet).
Manchmal verlässt sie das Kernthema und sagt uns z. B., dass der Tod eine Möwe sei. Als Kind habe ihr eine Möwe im Urlaub auf den Kopf gekackt. Das Feuchte im Haar sei Mahnmal für die Vergänglichkeit gewesen.
Besonders an diesen Stellen spürt man, was von Emily Walton in Zukunft noch alles zu erwarten ist.
KURIER-Wertung: **** von *****