"Wir drehen im Augenblick alle durch"
Er meldet sich selten öffentlich zu Wort, und Talkshow-Auftritte sind seine Sache nicht. Aber wenn Frank Schirrmacher, Herausgeber der renommierten Frankfurter Allgemeinen Zeitung, einmal das Wort ergreift, dann tut er das pointiert und viel beachtet – wie etwa mit seinem Essay "Die Linke hat doch recht" an einem der Höhepunkte der Finanzkrise.
Mit dem KURIER sprach er in Frankfurt über die Medienaufgeregtheit in Sachen Krise und über die immer häufigeren Medienhypes und ihre Folgen.
KURIER: Herr Schirrmacher, was war für Sie die aufregendste Nachricht des Jahres?
Frank Schirrmacher: Das war eine, deren Wertigkeit wir jetzt noch nicht benennen können: Dass das CERN in Genf das Higgs-Boson gefunden hat, zumindest Spuren davon.
Das sogenannte Gottesteilchen, das den Teilchen des Universums erst ihre Masse verleiht und sozusagen erklärt, was die Welt zusammenhält.
Ja, das ist die Nachricht, die mich zutiefst bewegt, weil das wäre eine wissenschaftliche Sensation und ein Durchbruch. Wenn es nicht gefunden wird auch, weil es dann neue Theorien für unser Universum braucht.
Und was war die unwichtigste Aufregung des Jahres?
Das Phänomen ist ja, dass man das schon gar nicht mehr weiß, weil man so überfordert ist mit den diversen Aufregungen. Aber die langweiligste Nachricht des Jahres ist die Summe der immer wieder in die Irre gehenden Mitteilungen über Euro-Rettung oder Nicht-Rettung. Da hätten wir uns viel Zeit sparen können, wenn wir davon nur einen Bruchteil zur Kenntnis genommen hätten.
Bleiben wir bei den Aufregungen: Sie zu verkaufen ist Teil des Mediengeschäfts, aber man hat den Eindruck, dass es von Fukushima bis EHEC, von Wikileaks bis Guttenberg noch nie so viele Medienhypes gegeben hat wie heuer, oder?
Das stimmt, und das wird noch zunehmen. Ereignisse und Nachrichten werden in nie dagewesener Weise hochgejazzt und wieder fallengelassen, und ein paar Wochen später weiß kein Mensch mehr: Was wurde eigentlich aus der Atomgeschichte in Japan oder aus der Revolution in Tunesien? Die Vor- und vor allem die Nachgeschichte des Ereignisses sind weg.
Und warum ist das so?
Der Journalist ist heute in der Situation eines Highspeed-Traders an der Börse. Er verkauft Nachrichten wie Aktienprodukte: Je schneller, desto besser. Das führt zu einer Veränderung nicht nur der Medien, sondern der Wirklichkeit. Weil es mittlerweile einen völlig neuen Biorhythmus für Nachrichten gibt. Früher waren das 24 Stunden, ein Tag und eine Nacht. Jetzt ist der Tag unterteilt in einzelne Segmente, die alle ihre eigene Struktur haben: Geburt der neuen Nachricht, Aufbau der neuen Nachricht, Höhepunkt und dann meistens das totale Zusammenfallen der neuen Nachricht – so funktioniert das im kleinsten und im größeren Zeitraum.
Sind die Medienhypes, die sehr schnell wieder in sich zusammenbrechen, eine Folge der wachsenden Konkurrenz der Medien, auch der sogenannten neuen? Oder weil’s der Medienkonsument so will?
Wer die moderne Medienwelt verstehen will, tut gut daran zu wissen, dass sie eine perfekte Interaktion zwischen menschlicher Biologie, Psychologie und Medienlogik ist. Die Bestie will gefüttert werden ...
Die Bestie ist der Konsument?
Ja. Es ist nicht so, dass ihm etwas aufgezwungen wird. Es entspricht vielmehr einem menschlichen Urbedürfnis. Die Hypes erzeugen Adrenalin, und zwar tatsächlich messbar, und bedienen das kurzzeitige Belohnungszentrum im Gehirn – die aufregende Nachricht ist wie eine Schokolade für das Kind. Und die macht ja auch süchtig. Allerdings sind die Medien zum Teil so besinnungslos in der Ausbeutung dieses Phänomens, dass sie auch dort übertreiben, wo’s gar nicht nötig ist, und sie allmählich Gefahr laufen, die Fähigkeit zu verlieren, nachhaltig zu sein. Und das ist für mich die große Chance von seriösen Printmedien.
Ist der Einfluss der Medien auf Politik und Gesellschaft durch die Wucht der Hypes gewachsen?
Der ist nachweislich gewachsen. Sie haben in Deutschland schon die ersten Politiker, die besoffen sind vor Begeisterung über Twitter und die Reaktion darauf schon einfließen lassen in ihre Politik – obwohl das Netz nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit ist. Und die Schnelligkeit, mit der nach Fukushima die Entschlossenheit zum Atomausstieg feststand, wäre ohne Netz nicht möglich gewesen.
Wieso?
Es war das Tempo der Aufregung, die signalisierte: Wir müssen etwas tun. Das war gar nicht die Nachrichtenlage aus Fukushima ...
Wo 20.000 Menschen in der Flut ums Leben kamen, aber in den Medien nur mit Halbwertszeiten und Strahlungswerten durcheinander geworfen wurde, ohne dass das wirkliche Ausmaß und die Folgen des Reaktorunglücks bekannt gewesen wären. Aber die Politik reagierte auf die verbreitete Angst.
Genau. Wir wissen zwar, das war eine Katastrophe, aber was wirklich war oder heute ist, wissen wir noch immer nicht. Ich mache kein Hehl daraus, dass ich die Entscheidung für den Atomausstieg für richtig halte, aber die Schnelligkeit ohne wirkliche Faktenlage war ungeheuerlich.
Ist Stuttgart 21 nicht ein Gegenbeispiel für den Medieneinfluss? Monatelang wurde breitester Widerstand gegen das Bahnhofsprojekt suggeriert, das in der Volksabstimmung dann gutgeheißen wurde.
Stuttgart 21 ist ein Beispiel dafür, dass eine entschlossene Gruppe den Eindruck erzeugen kann, für alle zu sprechen. Und die Medien haben ihre Aufgabe, das zu relativieren, vernachlässigt – die Volksabstimmung hat das bewiesen. Obwohl ich dazusage, das sind auch dialektische Prozesse: Manchmal bedarf es der Übersteigerung auf der einen Seite, damit die andere reagieren kann.
Medienhypes werden gerne an Personen festgemacht. Im Falle der Vergewaltigungs-Vorwürfe gegen Jörg Kachelmann und Dominique Strauss-Kahn hat der Hype diese Personen erledigt.
Besonders sympathisch finde ich diese Herren ja nicht. Was mich in beiden Fällen aber am meisten irritiert ist: Wir wissen nicht und wussten damals auch nicht, was wirklich passiert ist. Und trotzdem wird von der Öffentlichkeit und den Medien das gesamte bisherige Privatleben zurückgelesen, werden Dinge ans Licht gezerrt, die mit dem Fall unmittelbar nichts zu tun haben – und da beginnt es mulmig zu werden. Denn nach heutigem Wissensstand ist Strauss-Kahn ein anachronistischer Womanizer, der einen Seitensprung gemacht hat. Aber die Medien, und da spielten schon die Staatsanwälte auch eine Rolle, hatten ihn längst verurteilt.
Das Paradebeispiel für das Machen und das Fallenlassen eines Medienstars ist Carl Theodor zu Guttenberg.
Das ging über alle bisher gekannten Maßstäbe hinaus und zeigte, wie aus dem Nichts Lichtgestalten in dieser Gesellschaft entstehen können, die es dann vielleicht gar nicht sind. Wir haben in der FAZ eine ganze Seite gedruckt nur mit Schlagzeilen über Guttenberg. Das war ein Spiel von beiden Seiten, perfekt. Die Bejubelung kannte keine Grenzen. Das hat sich gesteigert wie in einem aristotelischen Drama, nach dem die ganze Medienlogik funktioniert: Aufbau, die Katastrophe und die Katharsis – die Guttenberg allerdings jetzt nicht liefert. Das Bedürfnis nach solchen Hypes und die Kritiklosigkeit, das ist das eigentlich Beunruhigende.
Apropos Katharsis: Hätte es die nicht in den Medien gebraucht nach der völligen Überschätzung des Phänomens Wikileaks?
Sie haben recht. Wir alle erinnern uns an die Thesen: Mit Wikileaks wird der Recherche-Journalismus überflüssig, alles wird transparent, eine Revolution auf dem Mediensektor – und wir sehen heute schon, dass das nicht stimmt. Das ist wie mit den Thesen über die Derivate im Börsenhandel, die als das Größte vom Größten verkauft wurden. Und in allen Fällen gaben sich die Medien als der allwissende Erzähler – und irrten. Man kann sich ja täuschen. Was aber völlig fehlt ist das, was wir ja auch von den Sündern erwarten: Dass Medien diese Fehleinschätzungen selbst thematisieren und sagen, was folgt daraus? Was lernen wir aus so einer Fehleinschätzung wie bei Wikileaks für künftige Prognosen?
Stattdessen ist das Thema, wie so viele andere, einfach vom Tisch.
Man sagt immer, die Aufmerksamkeitsspanne der Leser sei so gering geworden. In Wahrheit ist die Aufmerksamkeitsspanne der Medien so gering geworden, der schon beschriebene Biorhythmus. Der traditionelle Journalismus hätte da die Chance, gegenzusteuern. Wir brauchen in Zukunft nicht jede Information. Wir brauchen die Fähigkeit einzuordnen, was ist wichtig und was ist unwichtig. Am Beispiel Strauss-Kahn: Nehmen wir an, eine Zeitung hätte einmal berichtet, was ihm vorgeworfen wird, und dann nichts mehr bis zum Prozess beziehungsweise zur Einstellung des Verfahrens – ich würde dieses Medium, wenn es das konsequent machte, sehr bewundern.
Das ist aber ein Minderheitenprogramm.
Ich bin da nicht so pessimistisch. Der Mensch kann nicht alle Informationen aufnehmen. Wir drehen im Augenblick alle durch, das merkt ja jeder: Muss ich das wissen, muss ich das nicht wissen? Im Sinne eines darwinistischen Prinzips nach dem Motto "Was bringt mir die größten Vorteile" halte ich es durchaus für möglich, dass eine relevante Gruppe der Gesellschaft in Zukunft sagt, nein, ich kämpfe gegen meinen inneren Schweinehund an und brauche nicht immer alles zu wissen; zumindest aber will ich nach 24 Stunden nochmal eine andere Einordnung. Sonst werden wir total ausgebeutet, und wir werden Politiker erleben, die total auf den Augenblick und das momentane Belohnungszentrum zielen ...
Erleben wir das nicht jetzt schon?
Ja, das passiert schon.
Noch ein Hype: Der Hunger in Ostafrika war wochenlang kein Thema, dann wurden wir mit Bildern geflutet, und heute weiß kein Mensch, was aus Ostafrika wurde.
Da sind wir wieder bei der Aufmerksamkeitsspanne. Wobei: Es gibt auch produktive Hypes, und wenn die etwas bewusst machen wie zum Beispiel nötige Hilfe, habe ich gar nichts dagegen. Ich habe nur etwas gegen Hypes, die auf Kosten von Schwächeren gehen. Oder wie der gerade aktuelle, der da heißt: Wir alle haben über unsere Verhältnisse gelebt, der Sozialstaat ist zu mächtig geworden und so weiter – das ist schon wieder die nächste Fiktion. Wir reden im Augenblick eben nicht über den Sozialstaat. Die Staatsverschuldung hat viele Gründe, aber der Sozialstaat scheint noch der geringste zu sein. Und wenn jetzt die Devise ist, den Gürtel enger zu schnallen, dann heißt das de facto, dass der Staat überall dort wegnimmt, wo ohnehin schon wenig ist.
Aber welche Rolle spielen die Medien in der Krise: Transportieren sie Angst, schaffen sie Aufklärung?
Die Medien haben wahnsinnig viel Angst produziert. Viele Medien haben immer noch so getan, als ob sie verstünden, was da vor sich geht. Aus der Erkenntnis, dass die Vergangenheit in der Krise nicht recht hatte, müsste mehr produktive Unsicherheit kommen. Wir haben seit 1989 so viele Dinge erlebt, die wir nicht für möglich hielten – Fall der Mauer, Nine eleven, Lehman-Pleite, Staatsschuldenkrise –, und wir tun immer noch so, als wäre das alles eine Routine. Da niemand die wahre Antwort hat, wäre es Aufgabe der Medien, einer Pluralität der Meinungen Bühne zu geben. Man kann die Debatte nicht führen mit Orthodoxie, mit dem Anspruch, die Weltsicht und die Antwort zu haben. Man muss auch konträre Positionen zulassen oder formulieren ...
Etwa Ihr "Die Linke hat doch recht ..."
Ja genau, und dann passiert im Gehirn des Lesers etwas, was Kant "Ausgang aus der Unmündigkeit" nennt. Gesellschaften funktionieren nicht wie ein mathematisches oder physikalisches Lehrbuch. Das uns noch dazu das unvorhergesehene Ereignis nicht verinnerlichen lässt. Aber wenn Medien sich für Debatten öffnen, können wir dieses Unvorhergesehene greifbar machen und Menschen besser für die Zukunft wappnen. Ein Beispiel: Alle waren sich einig, in Griechenland darf es kein Plebiszit über die Sparmaßnahmen geben. Ich war dagegen, habe gesagt doch, das ist Demokratie – und ich bin auch sicher, die Griechen hätten dafür gestimmt. Aber wir vertrauen uns selber so wenig ...
Und haben Angst wie das Kaninchen vor der Schlange.
Statt zu debattieren und zu riskieren haben alle Angst. Und das führt zu autoritären Strukturen, die Entdemokratisierungsprozesse einleiten, die hoch gefährlich sind.
Helmut Schmidt, Stephane Hessel, in Österreich Hannes Androsch mit seinem gehypten und abgestürzten Bildungsvolksbegehren – woran liegt die Lust der Medien am Wort der alten Weisen?
Das hat zwei Gründe: Erstens, weil wir eine alternde Gesellschaft sind, für die die Rückkehr der Patriarchen sehr bezeichnend ist. Zweitens aber der immense Autoritätsverlust in unserer Gesellschaft, wo dann plötzlich zählt, dass einer Lebenserfahrung hat. Und wo es im Umkehrschluss bedenklich ist, dass Autorität bei den handelnden Menschen nicht gegeben ist. Mir wäre lieber wir hätten Gesellschaften, in denen die Aktiven Autoritäten sind so wie Willy Brandt oder Bruno Kreisky, die auch Fehler machen dürfen – und ich wüsste nicht, wo wir die in Europa haben. Wir müssen aufpassen in unserer Gesellschaft, dass die Jugend noch eine Stimme hat uind gehört wird. Da sind auch die Medien längst weit weg davon, weil der Markt der Jungen gar nicht mehr groß ist. Wir müssen uns deren Risikobereitschaft öffnen. Alte Gesellschaften haben ja leider keine Risikobereitschaft.
Stimme und Gehör haben sie aber in den neuen Medien wie Twitter & Co.
Der wirkliche Nachrichtenwert ist gar nicht das Entscheidende: Ich wüsste nicht, wann ich bei Twitter etwas erfahren hätte, was ich nicht genauso gut in den Nachrichten gehört hätte. Diese Systeme sind eher Wünschelrouten, um eine psychologische Stimmung in einer bestimmten Öffentlichkeit zu eruieren. Sie bekommen mit, wenn über etwas ganz viel getwittert wird, in welchen Worten – das ist wie Pulsfühlen, wie ein Psychogramm einer Gesellschaft, die keine Foren wie wir als Journalisten haben. Es ist nur ein Ausschnitt, aber ein guter Gradmesser. Denn das 21. Jahrhundert mit seinen Technologien ist eines, in der die Macht des Seelischen und die Macht der Psychologie größer ist als die Macht der Fakten.
Keine Sorge um die klassischen Medien?
Die klassischen Medien werden unsterblich sein. Die Gesellschaft braucht Leuchttürme wie auf hoher See, Orientierungspunkte, nicht lehrmeisterlich, sondern erklärend. Sie kann sie annehmen oder nicht, aber sie braucht sie. Die Macht der Bilder wird zunehmen, vor allem online und verstärkt im Fernsehen, das wird alles oberflächlicher sein, schauen Sie sich nur die diversen Talkshows an. Aber die Durchdringung wird immer durch den Text passieren.
Zur Person: Intellektueller des Feuilletons
Frank Schirrmacher studierte Anglistik, Germanistik, Literatur und Philosophie in Heidelberg und Cambridge. 1984 begann er als Hospitant bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 1994 ist der 52-jährige Publizist und Buchautor, der als einer der führenden Intellektuellen in Deutschland gilt, einer der fünf Herausgeber der Zeitung, zuständig für das Feuilleton. 2009 erschien sein Buch "Payback" über Strategien gegen die Informationsflut. Schirrmacher ist verheiratet und lebt in Potsdam.