Kultur

Das Irrenhaus und die Herdplatte

Üblicherweise gilt im Theater und im Leben das Entweder-oder-Prinzip: Entweder, die Herdplatte ist heiß, dann sollte man sie eher nicht als Lagerplatz für seine Hand verwenden. Oder sie ist kalt, dann wiederum eignet sie sich in dieser Form nicht zum Zubereiten einer Suppe.

Heiß und kalt

Bei der Uraufführung des merkwürdigen Stücks "Totes Gebirge" von Thomas Arzt im Theater in der Josefstadt wechselt die Herdplatte ständig zwischen heiß und kalt, manchmal ist sie sogar heiß und kalt zugleich. Nur selten kann man im Theater erleben, dass Langweile und Spannung einander so ähnlich sehen. Kaum langweilt man sich so richtig nach Kräften, wird man von der Inszenierung schon an die Spannung weitergereicht, und umgekehrt. Manchmal ist man sich nicht einmal sicher: Ist das, was mir gerade so auf der Kopfhaut juckt, jetzt Langeweile oder Spannung?

Der Autor sieht sich die moderne Leistungsgesellschaft im Spiegelbild einer psychiatrischen Anstalt an. Das ist einerseits eine tolle, fürs Theater ideale Idee – und andererseits ein Witz mit einem Bart, so lang wie die Westautobahn. Arzt lässt dann auch wirklich kein Psychiatrie-Klischee aus, von der patscherten, aber auch irritierenden Liebesgeschichte mit Blumenbegleitung bis zum lächerlichen Selbstmordversuch. Und natürlich schneit es durchs Dach hinein.

Apropos Dach und Schneefall: Miriam Busch hat ein sehr gutes Bühnenbild gebaut: einen sich drehenden Einheitsraum, der innen eine Art große Gummizelle darstellt und an den Außenseiten weitere Räume andeutet.

Tolle Figuren

Thomas Arzt hat – und das ist das Beste an diesem Stück! – großartige Figuren erfunden, die hinreißend gespielt werden und einem sofort ans Herz wachsen:

Der manisch-depressive Lehrer, der in der Anstalt Zuflucht vor sich selbst sucht (Ulrich Reinthaller);

seine vom vielen Verdrängen schon ganz erschöpfte Schwester (Maria Köstlinger);

die gegen das Alter ankämpfende Klinikchefin, die sich selbst mit Cognac behandelt (Susa Meyer);

der zwanghafte Lügner, Stalker und Möchtegern-Liebhaber mit Alkoholproblem (Roman Schmelzer);

der psychotische Jüngling, der auf den Weltuntergang hofft (Stefan Gorski);

der kleine Hausmeister mit den großen Träumen (Peter Scholz).

Das sind herrliche Typen, sehr exakt gezeichnet, die viel Ungesagtes und Unterdrücktes mit sich herumschleppen. Arzt kreiert starke Bilder voll mit bedrohlichen, aber auch komischen Stimmungen, er – kongenial unterstützt von Regisseurin Stephanie Mohr – ist ein Meister der Atmosphäre. Seine Sprache ist musikalisch gebaut, sehr rhythmisch, unterbrochen durch genau gesetzte Pausen.

Und es gibt viele Anspielungen, auf Nestroy (der Komet!), Raimund, auf Thomas Bernhard, auf Schubert, auf Theater- und Weltgeschichte, am Anfang macht es Spaß, diese Anspielungen zu dechiffrieren, irgendwann bekommen sie etwas Anstrengendes.

Am allerbesten gelingen die in oberösterreichischem Dialekt geschriebenen, von der wunderbaren Gruppe Franui vertonten Chorpassagen. Kompliment an das Ensemble: Die sieben Schauspieler singen diese komplizierten, zwischen Volksmusik, Jazz und Kunstlied angesiedelten Stücke (fast immer) präzise und stark. Manchmal bedauert man es fast, dass nach den Liedern das Stück weitergeht und das kein Konzertabend ist.

Handlung?

Was Thomas Arzt genau genommen nicht geschrieben hat: ein Theaterstück. "Totes Gebirge" hat keine Handlung, jedenfalls keine, die man gut nacherzählen könnte: Ein Mann weist sich selbst in die Psychiatrie ein, nachdem er sein altes Leben als Lehrer in Trümmer geschlagen hat. Mehr schweigend als sprechend laborieren er und seine Schwester an der gemeinsamen Vergangenheit. Die anderen Insassen sind alle irgendwie an der "Leistungsgesellschaft" gescheitert, wie und warum, erfährt man nicht. Ja, die Gesellschaft ist krank, und die Schule ist ganz besonders krank, und vielleicht sind die Irren die einzigen Normalen, aber diese Behauptung ist nicht neu, kann man die auch belegen?

Die vielen raunenden Gebirgs-Metaphern beginnen irgendwann zu nerven, außerdem finden sich im Text viele Halb- bis Viertellustigkeiten. Hätte man den zwei Stunden 45 Minuten langen Abend auf knapp zwei Stunden gekürzt, er würde vielleicht durchgehend packen – und nicht nur stellenweise faszinieren.

Die Reaktionen des Premierenpublikums (wie man sie zuletzt oft im Theater erlebt): Die einen schreien besonders laut Bravo, die anderen schweigen nach Kräften dagegen an.