Theater der Grausamkeiten
Von Peter Pisa
Nach neun Seiten fragt man sich: Und was machen wir die restlichen 580 Seiten miteinander?
Denn schon sind 15 Schiffbrüchige nach zehn Tagen auf See gerettet, und schon waren getrocknete Menschenfleischstückchen zu sehen: Verpflegung ...
Der Mensch frisst den Menschen.
"Erst kommt das Fressen, dann die Moral" (Brecht).
Aber so schnell hat man’s nicht hinter sich. Jetzt beginnt erst das "Theater der Grausamkeiten". Großtopp aufbrassen! Einscheren! Umlegen! Großschot los!
Mit Guillotine
Vor 200 Jahren an Bord der Fregatte "Medusa", Abfahrt im Hafen von Rochefort. Nach Afrika geht die Reise. Eine Guillotine reist mit. Der Senegal soll Angst vor den neuen, diesmal französischen Kolonialherren haben.
Die Niedertracht ist von Anfang an dabei.
Dieses Schiffsunglück ist historisch. Im Louvre hängt ein Gemälde von Théodore Géricault, "Das Floß der Medusa". Franzobels gleichnamiger Roman kann sich auf Chroniken von zwei Passagieren stützen.
Zum KURIER sagt er:
"Ich komme mir gerade vor wie ein Expeditionsreisender in die Abgründe des Menschlichen, der nicht weiß, ob die Zivilisation auf diese Erfahrungen überhaupt neugierig ist ..."
Ist man neugierig? (Oder will man die Bestie in uns lieber nicht so deutlich sehen?)
Man will DIESEN Franzobel kennenlernen. So anders ist er in "Das Floß der Medusa". So zielgerichtet. Ernst.
Selbst mit Witzen hält sich der gebürtige Oberösterreicher diesmal zurück; pinkelt ein Bauer, dann darf er zwar nicht pinkeln, sondern dann muss "Agrarier-Urin" dampfden ... aber das ist diesmal sogar verständlich:
Der Stoff zieht auch den Erzähler hinunter, und er muss sich manchmal ablenken, um kurz nach oben zum Luftschnappen zu kommen.
Franzobel baut auch gleich Vorschläge für eine Verfilmung ein: Den unfähigen, eitlen Kapitän müsste jemand vom Schlag eines Philip Seymour Hoffman spielen.
Seil gekappt
In den sechs Rettungsbooten war zu wenig Platz, als die "Medusa" auf der Arguin-Sandbank vor der westafrikanischen Küste festsaß. Ein 20 Meter langes Floß wurde gebaut, auf dem anfangs 150 Passagiere bis zur Hüfte im Wasser stehen mussten. Das Floß sollte in Schlepptau genommen werden – das Seil wurde gekappt: "Menschen" in den Booten ging die Fahrt zu langsam.
Auf dem Floß wurden bald Kranke und Schwache zu den Haien geworfen. Schon am dritten Tag wurden Tote tranchiert. Seltsam, dass man mehr würgt, wenn man liest: Ein Mann wurde von hinten überfallen, weil er so herrliche Eiterwimmerln auf dem Rücken hatte. Sie wurden ausgesaugt.
Proteine.
Es ist (sagt Franzobel), als hätte er einen Achttausender bezwungen, den Ärmelkanal durchschwommen oder eine kleinen Vorhölle durchquert.Ob sich an ihm etwas verändert hat, seit er sich – drei Jahre lang – mit der Geschichte beschäftigte?"Jetzt habe ich das Gefühl, das Leben mehr zu schätzen und für alles dankbarer zu sein."
Franzobel:
„Das Floß der Medusa“
Zsolnay Verlag. 592 Seiten. 26,80 Euro.
KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern