Suche nach der verlorenen Zeit
Wie gelangen eine Kunstsammlung und eine komplette Salonausstattung von Josef Hoffmann aus dem Besitz einer reichen jüdischen Familie just 1938 von Wien nach Australien? Nicht ohne Chuzpe, diese geistreiche Dreistigkeit, die überleben hilft. Und Mazel war auch im Spiel.
Im Buch „Wohllebengasse“ (Zsolnay) erzählt der Historiker und Umweltanwalt Tim Bonyhady gleich mehrere Geschichten: Wie seine Urgroßeltern – der Unternehmer Moriz Gallia und seine Frau Hermine – im Wien um 1900 im Gaslichtgeschäft zu neuem Reichtum kamen.
Wie sie als wichtige Kunst-Mäzene für das Beste, was Wien während der kulturellen Hochblüte von 1889 bis 1918 zu bieten hatte, fast in der Liga der Bloch-Bauers, Wittgensteins und Rothschilds mitspielten.
Und wie deren couragierten Kindern Käthe und Gretl nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland im Jahr 1938 fast Unmögliches gelang: Nicht nur SS und Gestapo knapp zu entkommen, sondern auch die Kunstsammlung vor den Nazis in Sicherheit zu bringen.
Wiener Fin de siècle
Hermine Gallia lässt sich von Gustav Klimt 1904 malen: Sein „Porträt einer Dame“ in Weiß gehört seit 1976 als einziges Klimt-Bild in einem englischen Museum der National Gallery in London.
Der Geschmack der Familie wurde vor allem von Carl Moll geprägt, dem „Impresario der Wiener Moderne“. Als Sammler „waren Moriz und Hermine Mini-Bloch-Bauers“, schreibt Bonyhady.
Alma Schindler, der die größten Wiener Maler, Schritsteller und Musiker der Jahrhundertwende zu Füßen lagen, war für den Dirigenten Bruno Walter das „schönste Mädchen Wiens“.
Das schrieb nach einer Secessionsausstellung ins Tagebuch: „Ganz Israel versammelt, wie immer. Wie bei einem Tempelfest.“ Über die erste Einladung bei Hermine und Moriz notierte Alma, mittlerweile verheiratet mit Gustav Mahler: „Abends bei Gallia. Kaviar, Champagner und ein feistes Judenpaar.“
„Karrieretaufen“
Großbürgerlich
Um 1913, als sie in die von Josef Hoffmann eingerichtete Wohnung in ihrem Haus in der Wohllebengasse zogen und mit dem Sammeln aufhörten, besaßen sie mindestens 25 Gemälde – das älteste von Ferdinand Georg Waldmüller – aus fast 80 Jahren, die den Aufstieg der modernen Kunst in Österreich, wie Klimt und seine Anhänger sie sahen, illustrieren.
Die Opulenz der Wohnungsausstattung illustriert eine Anekdote: Eines Tages erschien ein Freund mit einem Spazierstock, den er nie dabei hatte, solange die Familie Gallia noch über ihrem Gaslichtgeschäft in der Schleifmühlgasse wohnte.
Besorgt fragte man den Besucher, wie er sich denn verletzt habe. Warum er einen Stock trage. „Weil hier alles voller Marmor ist“, antwortete er. „Ich habe den Stock mitgebracht, falls ich einmal auf Holz klopfen muss.“
Die dritte Generation entwickelte mehr praktische Vorstellungen, was das Mobilar betrifft. Anne, die Mutter des Autors Bonyhady, über das Interieur 1947: „Es sind riesige Dinger, sehr schwer sauber zu halten. Nun, wir haben das ganze Zeug hier.“
KURIER-Wertung: **** von *****
INFO: Tim Bonyhady: „Wohllebengasse“ Übersetzt von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag. 448 Seiten. 25,60 Euro