"Aserbaidschan ist nicht Nordkorea"
Der Bundesrat der österreichischen Grünen, Marco Schreuder, befindet sich aus Anlass des Eurovision Song Contests (ESC) seit Mitte Mai in Aserbaidschan. Der bekennende Contest-Fan hat sich seither auf privater Ebene mit der Opposition, NGOs und den Homosexuellenaktivisten vor Ort getroffen und vernetzt. Mit der APA sprach der 43-Jährige über die demokratische Perspektive des Landes, die Situation von Homosexuellen und die Auswirkungen des ESC auf die aserbaidschanische Gesellschaft.
APA: Welchen Eindruck haben Sie von der Stadt Baku seit Ihrer Ankunft gewonnen?
Marco Schreuder: Baku hat mich wirklich positiv überrascht. Ich habe weder mit der Schönheit gerechnet noch mit der unglaublichen Freundlichkeit der Menschen. Noch dazu ist dieses Land - obgleich mehrheitlich schiitisch - säkular und laizistisch. Es ist der Beweis, dass eine säkularisierte islamische Gesellschaft möglich ist. Andererseits ist klar, dass ich hier weder Presse noch Fernsehen sprachlich verstehe - insofern kann ich schwer beurteilen, wie gelenkt manches ist. Das ist für einen Außenstehenden, der weder Russisch noch Aserbaidschanisch kann, schwierig. Deshalb war die Kontaktaufnahme mit den NGOs wichtig.
Sie haben sich darüber hinaus auch mit dem Zusammenschluss "Sing for Democracy" zusammengesetzt, der bereits im Vorfeld sehr offensiv an die Öffentlichkeit gegangen ist. Wie weit geht die Freiheit der Opposition in Aserbaidschan?
Es ist nicht Nordkorea. Der Eindruck wird klar vermittelt, dass die Aliyevs den Staats als einen Familienbetrieb führen und sich nun entscheiden müssen, ob sie einen demokratischen Staat aufbauen wollen oder ein familiär-diktatorisches Regime. Das spürt man - weshalb die Opposition auch so nervös ist.
Soll man ein Event wie den ESC in einem menschenrechtlich fragwürdigen Land wie Aserbaidschan abhalten. Hat solch eine Veranstaltung Auswirkungen?
Die Frage ist, was die Oppositionellen dazu sagen. Im März war einer der Sing-for-Democracy-Organisatoren, Rasul Jafarov, bei uns in Wien und hat klargestellt, dass es keine einzige Oppositionspartei gibt, die für einen Boykott votiert. Schließlich ist solch ein Event eine große Möglichkeit für die Opposition, Aufmerksamkeit zu bekommen. In dieser Frage steht das Match zwischen Regierung und Opposition derzeit unentschieden, würde ich sagen. Zugleich gibt es keine freie Meinungsäußerung, wenn alle Oppositionszeitungen zusammen eine Auflage von rund 20.000 Stück erreichen, womit man keine demokratische Durchdringung der Gesellschaft erreichen kann. Aserbaidschan als Mitglied des
Europarates wird sicher weiter unter die Lupe genommen werden - jetzt vielleicht sogar mehr.
Der ESC besitzt nicht zuletzt eine große schwule Fangemeinde. Wie ist die Situation von Homosexuellen in Aserbaidschan?
Homosexualität ist seit dem Jahr 2000 legal. Zuvor war der Analverkehr verboten. Auch das Schutzalter für Homo- und Heterosexuelle ist gleich. Ein großer Vorteil ist, dass hier auch heterosexuelle Männer auf der Straße Arm in Arm gehen oder sich zur Begrüßung küssen. Man fällt als homosexuelles Paar also nicht weiter auf. Aber natürlich ist die Gesellschaft weit davon entfernt, gesetzliche Regelungen zur Partnerschaft zu haben oder auch nur ein Antidiskriminierungsgesetz - wobei der Europarat hier eine Direktive ausgegeben hat. Es wird also spannend, wie weit man das hier umsetzt
Gibt es eine homosexuelle Szene in Aserbaidschan?
Es gibt seit einigen Monaten ein Schwulenlokal in
Baku. Allerdings passiert das im Internet - die Adresse wird nirgends veröffentlicht. Dagegen gibt es schon seit längerem zwei Lesbenbars, was auch an der patriarchalen Marginalisierung hier liegen kann. Und es gibt eine offizielle homosexuelle Organisation, die in konkreten Notfällen hilft. Allerdings trägt die Organisation die Worte schwul oder lesbisch nicht im Titel, sondern nennt sich auf "Vorschlag" des Justizministers "Gender and Development". Andererseits unterstützt das Gesundheitsministerium auch Aids-Präventionsprojekte und gibt es erstaunlich viele Transsexuelle in Aserbaidschan, was auch durchaus akzeptiert ist.
Man muss sich also die Graustufen dieser Gesellschaft anschauen. Es ist keine lupenreine Demokratie hier, im Gegenteil - es könnte aber eine werden. Deshalb muss man hier behutsam vorgehen. Eine strikte Verdammung würde eher eine Abschottung zur Folge haben und wäre kontraproduktiv.
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