Kultur

Frühlings Erwachen mit Helden des letzten Jahrtausends

Barcelona, Ende Mai 2013: Spanien steht im Bann der Finanzkrise, auch Katalonien als wirtschaftlichen Motor des Landes hat es erwischt. Die protestierenden „Empörten“, die Indignados, sind zwar auf den Straßen der Stadt nur mehr versprengt zu finden. Verschwunden sind sie aber nicht: Die nach Geld bettelnden Menschen auf den Straßen werden immer jünger – und tragen Adidas-Schuhe und lesen Stéphane Hessel.

Sie unterscheiden sich so optisch nur wenig von der Meute, die auf das Gelände des Parc del Forum direkt am Meer vor Barcelona strömt. Jutesäcke über der Schulter, Klamotten vom Flohmarkt ums Eck, Hipstertum allerorts. Gut 100.000 Menschen fasst das etwas surreal anmutende Gelände, das als Relikt einer Kulturschau mit überdimensionalen Solarkollektoren den Rahmen für das Primavera 2013 bietet. Zehn Bühnen werden bespielt, das Programm ist beinahe unüberschaubar dicht - von Donnerstag bis Sonntag dauert der musikalische Rausch.

Die Erwartungshaltung dabei ist groß: Nicht nur Blur haben sich aus den Untiefen der Zurückgezogenheit angekündigt, auch Größen wie der Wu Tang Clan oder My Bloody Valentine schüren die Euphorie schon im Vorfeld - gemäß dem Motto Wiederhören macht Freude.

Tag 1: Frieren für das Hörvergnügen

Zum Auftakt am Donnerstag gibt’s Wild Nothing, Dream Pop aus den USA – eine wundervolle Einstimmung, da neben der Bühne auch erstmals ein leuchtend-blinkendes Riesenrad die Kulisse erhellt. Tame Impala schließt nahtlos daran an; psychedelische Stimmung kommt aber angesichts der etwas stoischen Bühnenshow der Australier nicht auf – was aber auch an der Irritation über das Wetter liegen kann: Kann man zu Primavera-Zeiten in Barcelona normalerweise mit Badewetter rechnen, wird das Gelände heuer von Hoodies und Windjacken bevölkert. Mehr als 15 Grad hat es nicht, der Meereswind tut sein Übriges.

Dinosaur Jr. ändern daran gottlob etwas: J Masics’ graue Mähne auf der Hauptbühne lässt nicht nur die Kälte ein wenig vergessen, sondern euphorisiert die Masse trotz Fehlens des Schlagzeugers Murph – deutlich wird dabei, dass das 2012 erschienene Album „I Bet on Sky“ kein altersmilder und lauwarmer Abgesang auf glorreiche alte Zeiten ist.

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Konsequent fortgesetzt wird dies dann mit dem Auftritt von Bob Mould. Die einprägsame Stimme der Hüsker-Dü-Legende tönt lautstark über das Gelände und sorgt für ein unerwartet volles Auditorium – zu Recht. Auch die Elektroniker von The Postal Service nebenan ziehen kaum Publikum ab. Aber nicht, weil das im Vorfeld beinahe mythisch aufgebauschte Comeback von Ben Gibbard, Jimmy Tamborello und Jenny Lewis zu verachten wäre. Lewis’ Stimme ziert mehr als nur einen Song, Death-Cab-for-Cutie-Mann Gibbard sorgt für eine druckvolle, leichte und beinahe schwebende Show – definitiv einer der Höhepunkte.

Weniger Anziehungskraft üben danach die französischen Pop-Elektroniker Phoenix aus: Zu perfekt inszeniert und durchchoreographiert wirkt ihre Show – wenngleich ein Regen aus Fake-Dollar-Scheinen als Schlussakt zur Single „Bankrupt“ für einen wirklich hübschen Moment sorgt. Ähnlich geht’s einem dann bei Animal Collective, die als letzter Headliner den Abschluss des Tages bestreiten. Zu wenig Lust auf der Bühne und in den Rängen, ein Stück zu viel innere Versenkung.

Tag 2: Chancenlos gegen Blur

Tags darauf hat Daniel Johnston, Kurt-Cobain-Muse und Kassetten-Hero, seinen Auftritt im Auditori, der einzigen Indoor-Location des Festivals. Die Schlange ist allerdings ob der recht raren Auftritte des US-Musikers unüberschaubar lang, als Alternativprogramm bieten sich da die Briten Django Django an – Heppi-Peppi-Rock zum Mitwippen und -grinsen. Weniger Begeisterung kommt bei den Breeders auf: Die beiden Schwestern spielen ihr 1993er-Album „Last Spash“ zwar vor einer bestens gefüllten Hauptbühne, man ist aber ob der Zurückhaltung auf der Bühne geneigt, noch vor der Jahrhundertnummer „Cannonball“ das Weite zu suchen.

Einen eher ungewöhnlichen Act liefert das Primavera mit Solange, Beyoncés kleiner Schwester: Zwar hat ihr stimmiger Pop wenig mit dem konventionellen Stil ihrer Schwester zu tun, wirklich eindrucksvoll sind aber nur ihre Tanzeinlagen – auch wenn das Publikum ihr Begeisterung entgegenträgt. Anders ist das bei Jim Jarmusch, dessen Talente eher im Filmemachen zu suchen sind als auf der Bühne. Das greise wirkende Gejamme auf der Bühne verliert ziemlich schnell seine Anziehungskraft, zumal nicht weit entfernt die Shoegaze-Helden The Jesus and Mary Chain dröhnen.

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Klassisch gut gefüllt ist der Bühnenvorplatz dann wieder bei James Blake, der heuer nach 2011 seinen zweiten Primavera-Auftritt absolviert. Vor zwei Jahren noch spätnachmittags auf einer kleinen Bühne untergebracht, darf das britische „Dubstep-Wunderkind“ mit seinem zweiten Album diesmal auf der Hauptbühne Platz nehmen – was er in Trenchcoat gehüllt und mit manierierter Attitüde macht. Dem Hype um ihn gerecht werdend johlt das Publikum, wirkliche Euphorie mag das nicht zu erzeugen.
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Die wahren Headliner des Abends heißen allerdings ohnehin Blur. Zeitgleich mit den Swans angesetzt, was das Herz schmerzen lässt, und ebenso simultan zu den Sex Jams aus Wien, die sich so mit einer kleinen Menge an Zusehern begnügen müssen, liefert ein leicht gealterter Damon Albarn genau das ab, was man von ihm und seinen Mannen erwartet: eine Hitschleuder. Albarn schmettert, neuerdings mit Goldzahn bestückt, „Beetlebum“ und „Tender“ in die Menge, aber auch Nummern ihres Durchbruch-Albums „Parklife“ sind zu hören. Die Meute vor der Bühne dankt es den Britpop-Heroen, reckt die Hände in die Höhe und grölt zu „Song 2“ herzerweichend mit.

Tag drei: Wu Tang! Wu Tang!

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Der letzte Festivaltag stünde ganz im Zeichen des Champions-League-Finales, hätten nicht Barcelona gegen die Bayern den Kürzeren gezogen – die Reihen vor der Videoleinwand, auf dem das deutsche Duell übertragen wird, sind dementsprechend leer. Schuld daran dürfte allerdings nicht nur die nicht-spanische Beteiligung, sondern auch der Auftritt des Wu Tang Clan sein.

Die Hip-Hopper liefern in altbewährter Manier eine unheimlich spaßige Bühnenshow – sie lassen das Publikum hüpfen, die Hände zu obligaten Ws formen und wedeln auf der Main Stage mit ihren Handtüchern. Douglas Adams hätte - anlässlich des Towel Days - seine helle Freude.

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Nicht weniger Spaß verbreitet danach der Elektroniker Dan Deacon: Interaktion ist neben Beats sein Hauptelement, er lässt das Publikum Chroreographien tanzen und trägt dabei immer einen Witz auf den Lippen – der untersetzte Bartträger ist sicherlich eines der unerwarteten Highlights des Tages. Erwartbar großartig ist hingegen Nick Cave: Im schwarzen Satinhemd und traditionell nach hinten gelecktem Haar lässt er mit seinen Bad Seeds wahrlich große Emotionen zu; Cave geriert sich mit Pianobegleitung als Grandseigneur der Melancholie und entlockt so manchem einen verzückten Seufzer.

Ebenso seufzen lassen einen danach My Bloody Valentine: Als einer der gefühlten Höhepunkte enttäuschen die Shoegaze-Veteranen mit verwaschenem Sound; auch gesanglich fühlt sich das Ganze weniger stimmig an. Irgendwie passend, dass auf der Nebenbühne Omar Souleyman aus Syrien mit arabischem Kopftuch bestückt Traditionelles mit Elektro mischt - so mancher Zuhörer ist sich nicht sicher, ob die Bontempi-Orgel-Performance ernst gemeint ist.

Zum krönenden Abschluss dann Hot Chip. Alexis Taylor und Konsorten spielen sich, ganz dem Titel ihres Albums folgend, „In Our Heads“; lassen Beine wippen, Köpfe nicken. Ebenso DJ Koze, der zum Sonnenaufgang auflegt und dazu auf die Stimmen Hildegard Knefs und Dirk von Lowtzows Stimmen remixt. Ein perfekter Abschluss.

Retro statt Neo

Übrig bleibt neben dem dumpfen Gefühl im Kopf, das aus Alkoholgenuss und Musiküberdosis herrührt, auch die Frage nach der eigenen Nostalgie – schließlich haben die Headliner dieses Jahr alle bereits ein gewisses Alter erreicht. Möglicherweise auch eine Wirkung der Krise: Rückschau statt Neuorientierung, vielleicht mag es daran liegen.

Allerdings ist es hier eine Rückschau, die von erfrischender Eleganz getragen wird. Nicht die üblichen Pop-Pensionäre wie Guns N‘ Roses oder Metallica provozieren hier adoleszente Gefühle, sondern die oft leisen Wegbereiter der Indie- und Elektronikszene. Dass auch damit riesige Hallen zu füllen sind, wissen die Veranstalter genau – nicht umsonst ist das Primavera eines der größten Festivals des Landes. Und Conaisseure wissen auch, warum.