Neue Jugendbücher im Überblick
Von Susanne Lintl
Er behauptete, nicht genug zu verdienen, um für eine Familie mit Kindern sorgen zu können. Fragte seine Lebensgefährtin Thérèse Levasseur, ob sie denn wolle, dass er stehlen gehe. Wenn er jemals Geld mit seinen Büchern verdienen wolle, dann brauche er schließlich Ruhe. So ähnlich muss Jean-Jacques Rousseau die Tatsache, dass er seine fünf Kinder weg in ein Waisenhaus gab, gerechtfertigt haben. Als der große Philosoph, dessen Geburtstag sich im kommenden Juni zum 300. Mal jährt, 1762 sein bahnbrechendes pädagogisches Werk "Émile oder über die Erziehung" veröffentlichte, wusste niemand davon. Er plädierte darin für eine modernere Form der Pädagogik, entwirft das Vorbild einer an der Natur des Menschen orientierten Erziehung.
Die belgische Schriftstellerin Kathleen Vereecken wagt in "Eine größere Welt" ein Experiment: Sie begibt sich in die Rolle des ältesten Sohnes auf der Suche nach dem Vater. Erzählt von Leon, der in ärmlichsten Verhältnissen bei einer Pflegefamilie in derRegion Burgund aufwächst. Erträglich macht sein Leben nur Méline, die älteste Tochter des Hauses, die ihn liebevoll betreut. Als Méline auf tragische Weise stirbt, schlägt sich der Zehnjährige nach Paris durch.
Leichengeruch
Dort will er seine Eltern suchen. Eine Karte mit einem ominösen Zeichen, die einst in seiner Windel steckte, soll ihm dabei helfen. Bis er sie tatsächlich findet, macht er Schlimmes durch: Im Viertel rund um den Friedhof Les Innocents findet er eine armselige Bleibe, die er mit zwei Frauen teilt. Um zu überleben, muss er sogar Leichen stehlen.
Vereecken erzählt vom Leben in Frankreich im Zeitalter der beginnenden Aufklärung mit einer atmosphärischen Dichte, die unter die Haut geht. Sie macht den Gestank in der Stadt, den Kloaken- und Leichengeruch, der über den Armenvierteln hängt, die Krankheiten, den Schmutz und Hunger, denen die Nicht-Privilegierten (und das waren damals alle außer dem Adel) ausgesetzt waren, plastisch fühlbar. Führt vor Augen, dass Reichtum und Armutdamals so extrem waren, dass es unausweichlich zur Revolution kommen musste. "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" waren keine hohlen Worte, sondern überlebensnotwendige.
Heuchler
Die Autorin entlarvt mit ihrem tapferen jungen Leon den großen Aufklärer und Intellektuellen Rousseau als noch größeren Heuchler: "Fünf Kinder hat er gezeugt. Fünf Kinder, die seiner Aufmerksamkeit keine Sekunde wert waren. Was für ein unglaublicher Held der Fiktion, weil die Wirklichkeit zu anstrengend für seine empfindsame Natur ist ..."
Die "Aufklärungsarbeit" über Rousseau erledigte im übrigen dessen Kollege Voltaire: In seinem Pamphlet "Sentiments des citoyens" stellte er 1764 Rousseau für das Weggeben seiner Kinder gnadenlos an den Pranger. Leon verspürt keine Rachegefühle, als er seines Vaters Bücher liest und Einblick in dessen Gedankenwelt bekommt. Er will ihn nicht mehr kennenlernen. Er hat ohne ihn zu sich selbst gefunden.
KURIER-Wertung: **** von *****
"Fabeln aus aller Welt"
Von grünhosenden Fratzen (sprich: frechen, jungen Fröschen), weinenden Schweinen, einem fliegenden Nilpferd und tintenblauen Krokodilen auf Wanderschaft handeln die "Fabeln aus aller Welt“, die nun im Tulipan Verlag erschienen sind (25,70 Euro). Die skurrilen Tierfiguren sind die Helden der Geschichten von Aesop, La Fontaine, Lessing, Grillparzer, Busch, Ebner-Eschenbach und vielen weiteren großen Namen der Weltliteratur. Die komischen, teils herrlich bösen Illustrationen von Karsten Teich machen die Geschichten richtig lebendig.
KURIER-Wertung: *** von *****
"Das Geheimnis von Ashton Place – Aller Anfang ist wild"
Lord und Lady Ashton haben ungewöhnlichen Zuwachs bekommen: In den ausgedehnten Wäldern ihres Besitzes haben sie drei Kinder aufgegriffen, die scheinbar von Wölfen aufgezogen wurden. Der liebenswerten Gouvernante Miss Penelope obliegt es nun, aus den Wildfängen ehrbare Engländer zu formen. Humorvoller Ausflug in viktorianische Zeiten. Maryrose Wood: "Das Geheimnis von Ashton Place – Aller Anfang ist wild". Thienemann. 13,40 Euro. Ab elf.
KURIER-Wertung: **** von *****
"Ismael – bereit sein ist alles"
Der Kuss von Kelly, seinem Schwarm, liegt schon ein halbes Jahr zurück. Jetzt hat Ismael anderes im Kopf: Er erörtert im Debattierclub der Schule mit seinen Kumpels die großen Fragen der Menschheit. Zum Beispiel Hamlet, gesunde Ernährung, Frauen. Auch in den Sportwettbewerben wachsen die Teenager über sich hinaus. Liebenswerter Blick in die Welt von Pubertierenden.
Michael Gerard Bauer „Ismael – bereit sein ist alles“. Übersetzt von Ute Mihr. Hanser. 15,40 Euro. Ab 12 J.
KURIER-Wertung: **** von *****
"Wer hat Angst vor Jasper Jones?"
Mitten in der Nacht wird der 13-jährige Charlie vom Klopfen an seinem Fenster geweckt. Draußen steht Jasper Jones, der Außenseiter der Klasse. Er bittet Charlie, mit ihm in den Busch zu gehen, wo er eine schreckliche Entdeckung macht: Laura Wishart hängt tot an einem Baum, ein Seil um den Hals. Damit ist für Charlie die heile Kindheit vorbei. Packender Jugendkrimi.
Craig Silvey „Wer hat Angst vor Jasper Jones?“. Übersetzt von Bettina Münch. Rowohlt. 17,50 Euro. Ab zwölf.
KURIER-Wertung: **** von *****
"Die Kurzhosengang & Das Totem von Okkerville"
Island, Snickers, Rudolpho und Zement heißen die vier Mitglieder der coolsten Bubengang Kanadas, der Kurzhosengang. Um Unheil von ihrer Heimatstadt Okkerville abzuwenden, müssen sich die vier Smartes auf die Suche nach einem verschwundenen Totempfahl machen. Gegen Schneestürme und Grizzlybären kämpfen und überhaupt ganz tapfer sein. Wunderbare Unterhaltung. Zoran Drvenkar „Die Kurzhosengang & Das Totem von Okkerville“.
cbj. 16,50 Euro. Ab zehn.
KURIER-Wertung: **** von *****
"Pampa Blues"
Es gibt nichts außer einer Tankstelle in Wingroden, diesem elenden Provinzkaff, in dem der 16-jährige Ben festsitzt. Ein UFO muss her, um Leben ins Dorf zu bringen. Doch das UFO treibt ab, Polizei und Presse kommen wegen eines Mordverdachts ins Dorf, und Ben verliebt sich. Eine köstliche Provinzposse des Schweizer Grafikers, Jazzmusikers und Autors Rolf Lappert. Ein echtes Lesevergnügen. Rolf Lappert „Pampa Blues“. Hanser Verlag. 15,40 Euro. Ab 14.
KURIER-Wertung: ***** von *****
"Méto – Das Haus"
In einem Haus, das von der Außenwelt abgeschnitten ist, leben 64 Buben nach einem strikten Tagesablauf. Jede Entgleisung wird von den Cäsaren, den Wächtern, gnadenlos bestraft. Niemand kann sich an seine Zeit vor der Gefangenschaft im Haus erinnern bzw. weiß, was davor passiert ist. Bis es Méto, dem Ältesten, reicht und er für die Freiheit kämpft. Erster Teil einer Trilogie.
Yves Grevet „Méto – Das Haus“. Übersetzt von Stephanie Singh. dtv. 15,40 Euro. Ab 13.
KURIER-Wertung: **** von *****