Kultur

"Wir sollten uns nur vor der Dummheit fürchten"

Der Regisseur über das Abenteuer Jelinek, seinen Stil der Reduktion, Angstpolitik, den österreichischen Schmäh – und das "Kasperle-Theater" um die Besetzung der Burg-Direktion. Premiere: Samstag.

KURIER: Das ist Ihre erste Jelinek-Inszenierung. Wie fühlt sich das Abenteuer Jelinek an?

Michael Thalheimer: Im Moment bedeutet es Arbeit, Arbeit, Arbeit, und das fühlt sich toll an. Ich mag ja Arbeit. Wir wollen es schaffen, den Text nicht einfach abzulesen – sondern ihn freihändig auf der Bühne zu behaupten. Und das chorisch, mit 16 Protagonisten. Das widerspricht der Natur des Schauspielers, seiner Individualität. Aber es macht den Schauspielern Freude.

Ist die Inszenierung eines Jelinek-Textes schwieriger als ein Klassiker?

Es ist deswegen mehr Arbeit, weil wir einen komplett unstrukturierten Text haben, ohne Personen. Sie und ich gehen davon aus, dass es ein Bühnenstück ist. Dabei wissen wir das gar nicht. Es steht nicht "Drama" drüber, nicht "Tragödie", nicht "Komödie". Ich muss den Text selbst strukturieren, die Dramaturgie erfinden. Das bedeutet mehr Arbeit, aber auch mehr Freiheit.

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Sie gelten als Perfektionist, arbeiten extrem genau und reduziert. Wie passt das zu diesen Textfluten von Jelinek?

Das müssen die Zuschauer beantworten. Aber ich gehe an diesen Text heran wie an alle Texte. Mit der Konzentration auf das Wesentliche und auf die Geschichte, die ich erzählen möchte. Ich versuche, alles Überflüssige zu vermeiden.

Das ist Ihr bekannter Stil.

Ich weiß nicht, ob es ein Stil ist – ich komme ja aus meiner Haut nicht heraus! Ich glaube: Ja, ich bin ein Perfektionist. Viele, die mit mir arbeiten, sagen das ... (lacht).

Das kann anstrengend sein, für die anderen ...

... und für mich selbst.

Haben Sie die Uraufführung des Stückes durch Nicolas Stemann gesehen?

Bewusst nicht. Es würde abfärben, Zweifel auslösen, mich beeinflussen. Ich habe aber einige Jelinek-Texte auf der Bühne gesehen, natürlich viele davon in der Regie von Nicolas Stemann. Er geht an diese Texte viel freier heran, was nicht mein Ansatz ist, aber ich habe großen Respekt vor seiner Arbeit.

Der Text nimmt Bezug auf aktuelle Flüchtlingsdramen, auf Lampedusa, auf die Votivkirchen-Besetzung in Wien. Einer der seltenen Fälle, wo Theater mit der Realität kollidiert.

Der Text gibt Gelegenheit, sich zu fragen: Haben wir Mitleid und Barmherzigkeit? Oder lassen wir uns steuern durch Angstpolitik? Der Auftrag, den eine Bühne übernehmen kann, lautet: Gedächtnis und Gewissen zu sein. Wir wollen nicht mit dem Zeigefinger auf das Publikum zeigen und sagen: Wir wissen es besser. Sondern uns gemeinsam ins Gedächtnis rufen: Was haben wir erlebt? Mehr ist nicht möglich. Ich fände es anmaßend, würde ein Schauspieler auf der Bühne so tun, als wäre er ein Flüchtling.

Was haben wir erlebt?

Es geht um die Frage: Was machen wir, wenn wir uns so abgrenzen und schützen? Was wird denn geschützt? Die großen abendländischen Werte sind es nicht, denn die sind in unserer Gesellschaft kaum noch vorhanden – Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Mitgefühl. Ich denke, dass viele, die laut rufen "Das Boot ist voll", nur Angst haben um ihren kleinen materiellen Wohlstand. Wenn es uns gelingt, am Bewusstsein dessen ein wenig zu rütteln, dann hat Theater viel getan.

Also nicht Antworten zu geben, sondern die richtigen Fragen zu stellen.

Ja. Und das sind Fragen, die durchaus weh tun können. Mir auch. Wovor wir uns fürchten sollten, ist die Dummheit. Und da kann ein Jelinek-Text etwas leisten – als Entlarvung der lauten, Stimme der Dummheit.

Sie wurden oft genannt als möglicher neuer Burgtheater-Direktor. War Ihnen das angenehm? Oder unangenehm? Waren Sie enttäuscht, dass Sie es nicht wurden?

Ich habe mich nicht beworben, ich wurde gefragt. Ich empfand das als sehr ehrenvoll. Ich arbeite gerne hier, ich liebe das Ensemble, die Technik und alles, was dieses Haus ausmacht. Und ich mag die Stadt Wien. Enttäuscht war ich, dass ich öffentlich genannt wurde – weil man mir zugesagt hatte, dass die Gespräche vertraulich sind. Da habe ich dann gesagt: Jetzt wird es zum Kasperle-Theater.

Willkommen in Wien.

Das ist offenbar wirklich Wien-spezifisch. Schade, denn das beschädigt das Burgtheater. Als dann die Absage kam, war ich am ersten Tag enttäuscht, am zweiten wütend – und am dritten erleichtert. Aber ich wünsche Karin Bergmann eine glückliche Hand und alles, alles Gute! Und da gibt es keinen Neid! Deshalb fand ich es so schade, dass die Namen öffentlich wurden. Denn wir haben keine Konkurrenz untereinander.

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Sind Sie enttäuscht von der österreichischen Realität?

Der Österreicher kehrt gerne Dinge unter den Teppich. Außer, es sind Dinge, die nicht ihn betreffen. Dann hebt er gerne den Teppich und schaut nach, was drunter liegt. Ich weiß nicht – nennt man das "Schmäh"?