Kultur

Kulturgeschichte in Pappkartons

Wer erinnert sich noch, dass einmal direkt über das Stift Heiligenkreuz hinweg eine Autobahnbrücke geplant war? Dass das Theater an der Wien einmal einer Garage weichen und die Westautobahn bis zum Karlsplatz geführt werden sollte? Dass es um den Neubau des Unterrichtsministeriums 1964 heftige Kontroversen gab?

Neun von fast 40 blauen Schachteln mit Briefen, Dokumenten und Protokollen standen Montag im Büro von Direktorin Johanna Rachinger. Kulturministerin Claudia Schmied übergab das Archiv des Österreichischen Kunstsenats aus den Jahren 1954 bis 1999 an die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB): „Damit ist sichergestellt, dass die Arbeit des Kunstsenats für künftige Generationen bewahrt und wissenschaftlich aufgearbeitet wird.“

Zeitgeschichte

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Das Material von 1954 bis 1980 wird im ÖNB-Literaturarchiv verwahrt und noch heuer der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus personen- und datenschutzrechtlichen Gründen bleiben die Dokumente aus der Amtszeit Roland Rainers als Senatspräsident (1980 – 1999) bis ins Jahr 2037 gesperrt.

Akten von Brisanz umfasst die Schenkung, „kulturhistorisch sehr spannend“, so Rachinger. Das Material erlaubt interessante Blicke hinter die Kulissen der heimischen Kulturpolitik seit der Gründung des österreichischen Kunstsenats am 4. Oktober 1954: Als wichtiges Gremium berät es die Minister in Kunstfragen bis heute, vertritt außerdem Kunstanliegen in der Öffentlichkeit und hat das Vorschlagsrecht für den Großen Österreichischen Staatspreis. „Die Mitglieder des Kunstsenats, allesamt Träger des Großen Österreichischen Staatspreises aus den Sparten Architektur, Bildende Kunst, Literatur und Musik, haben seit Gründung des Senats immer wieder zu relevanten kultur- und gesellschaftspolitischen Themen Stellung bezogen“, sagt der Schriftsteller Josef Winkler, seit 2012 Präsident des Kunstsenats. „Jetzt ist ein vertiefender Einblick in Zusammenhänge und Hintergründe der Österreichischen Kulturpolitik seit den fünfziger Jahren möglich.“

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Dass die Geschichte der größten Auszeichnung, die Österreich an Künstler vergibt, ein nicht immer schmeichelhaftes Sittenbild der Alpenrepublik nach 1945 ergibt, ist bekannt. Umso interessanter sind daher die archivierten Sitzungs- und Abstimmungsprotokolle, die spannende Entscheidungsfindungen lebendig werden lassen – immerhin waren Carl Zuckmayer, Ingeborg Bachmann, Christine Lavant und Friedrich Torberg Preisträger in der Kategorie Literatur.

Die 50er-Jahre waren noch stark vom Kampf der Konservativen gegen die Moderne geprägt: Allerdings zeigte sich Architekt Clemens Holzmeister, ab 1954 der erste Kunstsenat-Präsident, bei der Verleihung der Preise später bisweilen erstaunlich offen für Entwicklungen der Moderne. Immerhin gehörten auch Ernst Krenek (1963), Oskar Kokoschka und Fritz Wotruba (beide 1955) zu den Geehrten. In den 60er-Jahren bemüht man sich schließlich, auch „Auslandsösterreicher“ und Exilanten wie Elias Canetti (1967) auszuzeichnen, im Jahr darauf wird mit Ingeborg Bachmann immerhin eine prononcierte Vertreterin der neuen jungen Literatur geehrt.

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Die Arbeit des Senats im Bereich Denkmalschutz, Hochschulausbildung und Programmgestaltung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens und Rundfunks lässt sich ebenfalls anhand der Archivmaterialien nachvollziehen. Aber den wahren Inhalt der Kartone kennt noch kaum jemand.

Als ein jahrzehntealtes Sitzungsprotokoll-Formular Montag aus einer Mappe gezogen wird, sagt Claudia Schmied entzückt: „Das schaut ja fast noch so aus wie jetzt. Auf die Verwaltung ist Verlass.“

Die Hintergründe zu kulturpolitischen Entscheidungen und zur Geschichte des Großen Österreichischen Staatspreises sind durch die Übergabe des Archivs des Kunstsenats an die ÖNB jetzt nachvollziehbar: Fein säuberlich stapeln sich in Mappen und Schachteln aus säurefreiem Papier u. a. Originalkorrespondenzen von Herbert Boeckl, Christine Busta, Elias Canetti, Franz Theodor Csokor, Heimito von Doderer, Gottfried von Einem, Albert Paris Gütersloh, Fritz Hochwälder, Ernst Krenek und Manès Sperber. Frisch wie von gestern wirken die jahrzehntealten Durchschläge von Prokokollen auf hauchdünnem Schreibmaschinenpapier: „Die sind auch nicht durch viele Hände gegangen“, heißt es im Ministerium, „da wurde gesammelt und abgelegt“. Der 1954 als Gremium etablierte Kunstsenat hat den Staatspreis zunächst für ein Lebenswerk, aber im Lauf der Zeit auch an jüngere Künstler vergeben. In der Ära Roland Rainers (1980 bis 1999) wurden als Literatur-Preisträger Friederike Mayröcker, Ernst Jandl, Peter Handke, Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Wolfgang Bauer, Ilse Aichinger und Andreas Okopenko „geadelt“. Und Hans Holleins Bekenntnis zur Moderne als Vorsitzer des Kunstsenats (1999–2012) war an den Auszeichnungen von Coop Himmelb(l)au (1999) und Gert Jonke (2001) zu erkennen.