Gerhard Roth: Von kümmerlich bis genial
Von 1942, 52, 62 ... auf 2012: Man rechnet und rechnet und kommt immer auf 70. Gerhard Roth wird am 24. Juni 70. Das ärgert. So einer darf nicht alt werden. Denn vielleicht wird er dann müde und kann nicht mehr so munter in fremden Köpfen spazieren gehen.
Nehmen wir Elias Canetti:
Gerhard Roth nahm ihm bei Begegnungen1973, 1975 und 1981 behutsam eine Maske nach der anderen ab: jene des Moralisten, des Menschenfressers, Liebenden, Kümmerlichen, Genialen ... so zeigt er das Leben selbst in erschreckender Vielfalt.
Das macht Roth immer; und immer lässt er sein Gegenüber auf sich wirken, sodass die Texte auch durch seinen eigenen Kopf führen.
Dort findet man z. B. seinen Zwang, "Irrenhäuser" zu besuchen: "Ich weiß nicht, warum."
Und seine Gier, Bücher zu kaufen: "Ich sammle überhaupt nicht, ich bin im Gegenteil davon überzeugt, dass mich Bücher, die ich nicht gelesen habe, mitunter mehr beeinflusst haben als gelesene ..."
Immer Krise
Gerhard Roths "Portraits"aus 35 Jahren, ursprünglich für Zeitungen geschrieben, legen keinen Wert auf Vollständigkeit. Sie legen offen. (Eckdaten findet man anderswo.)
Das gelingt sogar in den wenigen Zeilen über Tennessee Williams, 1975 in Wien. Da reicht der tröstende Ausspruch des amerikanischen Dramatikers: "Life is a permanent crisis."
Und bei Bruno Kreisky reicht es, ihn zu beobachten: beim allmorgendlichen Essen einer Grapefruit; bei seiner Freude, eine duftende Orangenblüte zu zerreiben; beim Blick in seinen Terminkalender:
10.15 Gespräche mit Finanzminister Androsch und dem norwegischen Planungsminister
10.45 Gespräche mit einer Delegation der Polisario
11.00 Gespräche mit Vertretern des Buchhandels
11.30 Gespräche mit den neu eingesetzten Treuhändern der Steuerberatungsfirma des Finanzministers
12.00 Interview für die holländische Zeitung "Het Parool"
12.30 Durchuntersuchung im Krankenhaus
In Ketten
... und wenn man diesen Blick hat, diesen anderen Blick, der selbst in nassen Flecken an der Wand die Welt erkennen kann, dann lässt sich auch in die Tiefe eines Menschen schauen, ohne ihn persönlich zu kennen.
Bei Briefbomben-Attentäter Franz Fuchs handelt Roths Essay vor allem von Land und Leuten in der Südsteiermark, wo schon jeder ein "Ausländer" ist, der im nächsten Dorf wohnt.
Oder beim Oststeirer Franz Gsellmann, 1981 gestorben, der die "Weltmaschine" gebaut hat: Man schaut mit dem Autor auf das Wirrwarr-Kunstwerk aus Rohren, Motoren, Glasstöpseln, Kruzifixe + 1 Waschtrommel, 1 Haarföhn, 35 Hula-Hoop-Reifen usw.
Gsellman hoffte, seine Maschine werde eines Tages etwas produzieren. Sie produziert Träume.
Der Mensch liegt in Ketten, ob er in einer Villa sitzt oder in Gugging.
Der Satz stammt nicht von Gerhard Roth. Würde er nie so plump sagen. Er lässt es uns einfach spüren.
Peter Pisa
KURIER-Wertung: ***** von *****
Michael Amon - "Der Glanz der Welt"
Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn der Wiener Schriftsteller Michael Amon den Hammer schwingt und eindrischt auf den ehemaligen Finanzminister Klaus-Hugo Grapschmann, der im Stammlokal "Giacomos" (gleich ums Eck vom Graben) seine Freunderln trifft:
den Privatbankier Thaddäus Schnittling XVI., den Baron Schmauch-Baller, die ganze Clique halt ...
"Hierzulande wäscht nicht bloß eine Hand die andere, sondern die hocken alle miteinander pudelnackert in derselben Badewanne und schrubben sich gegenseitig mit riesigen Schwämmen den Buckel und die Bäuche sauber. Packlraß!"
Dass Grapschmanns früherer Sekretär vom Stephansdom fällt, ist ebenfalls verlockend: Er war es, der – mit Diplomatenpass ausgestattet – das Schwarzgeld im Koffer in die Welt hinaus brachte.
Michael Amon ist ein undisziplinierter politischer Denker. Das zeichnet ihn aus. Das macht ihn so wichtig.
Aber bei seiner Satire "Der Glanz der Welt" war ihm die – herrlich komische – Milieubeschreibung derart wichtig, dass er aufs Buch vergaß. Ihm fehlte nicht nur das Interesse an einem Krimi: Eigentlich wollte er gar nichts erzählen, sondern attackieren. Amon baut eine schöne, aber unnötige Italienerin ein, ärgert sich über einen Fiaker, der während der Fahrt Pizza isst usw.
Grapschmanns Frau Fifi Kacerovsky-Cavallina, ständig an der Zunge des Ehemannes saugend (und seine Hinterbacke umklammernd), ist offensichtlich Lieblingsopfer des Wiener Autors.
"Bröng deine Geschäfte ön Ordnung", ermahnt der adelige Schnittling seinen verliebten Freund. "Ordne deine Hormone."
Amon wird bestimmt in der Fortsetzung des Romans, an der er arbeitet, auch einiges neu regeln.
Peter Pisa
KURIER-Wertung: *** von *****
Christian Frascella - "Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe"
Das Joghurt kippt er sich in den Hals. Dabei tropft es aus den Mundwinkeln, aber "es sieht machomäßiger aus, als das Zeug mit einem blöden Löffel zu essen".
Der 17-Jährige Ich-Erzähler ist schwer mit Stereotypen beschäftigt. Rauchen wie Bogart, grimmig dreinschauen wie Mickey Rourke und böse zischen wie James Cagney. Auch sonst hat er wenig zu lachen: Sein Vater – er nennt ihn "Chef" – liegt die meiste Zeit in der Hängematte und trinkt Bier. Die Mutter ist mit einem 13 Jahre jüngeren Tankwart verschwunden und hat ihn zum Gespött der Stadt gemacht. Dazu die Schwester, die er abschätzig "Mönchsrobbe" nennt, wahlweise "Klausurnonne".
Bei uns würde man "Kerzlschluckerin" sagen, die Frankfurter Verlagsanstalt hat sich entschlossen, den Titel aus dem Italienischen wörtlich zu übersetzen: "Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe".
Der Bruder der "Mönchsrobbe" ist ein Typ, der einem in der Literatur oft begegnet. Trotzig, ein Delinquent, der alle vor den Kopf stößt und für seine Umwelt nur Geringschätzung übrig hat. Sich prügelt, großspurig daherredet, und ja keine Schwäche zeigen mag. Liebe ... einfach zum Kotzen!
Dieses Übermaß an Egozentriertheit mag für Pubertierende typisch sein, hier hat es stellenweise komische Ausmaße. Im lakonischen Erzählton schwingt eine melancholische Note mit. Wir haben es mit einem Maulhelden zu tun, dessen Ausbrüche oft unerklärlich sind. Trotzdem liebenswert. Ein Teenager eben.
"Meine Schwester ist eine Mönchsrobbe", der erste Roman des 39-jährigen Turiners Christian Frascella, ist in Italien ein Bestseller. Spannend erzählt, nur stellenweise streifen die Figuren am Klischee. Aber auch das – beinahe liebenswert.
Barbara Mader
KURIER-Wertung: **** von *****