Antonia Brico: Die erste Dirigentin
Von Peter Pisa
Gramophone, die britische Zeitschrift für klassische Musik, hat 2008 – gewählt von Kritikern – die 20 besten Orchester der Welt aufgelistet.
Kein Orchester hatte je eine Chefdirigentin.
2017 die nächste Liste: Unter den 50 besten Dirigenten aller Zeiten ist … keine Frau.
Kann man sagen, Antonia Brico (1902 – 1989, Foto oben) habe vor 70, 80, 90 Jahren den Weg geebnet? Dass sie Frauen Mut machte, auch nach ihrem Tod, das kann man sagen: Auf dem Grabstein steht, man soll sich nur ja nicht vom Weg abbringen lassen.
Brico – geboren in Rotterdam, aufgewachsen bei Pflegeeltern in Kalifornien – gilt als erste Dirigentin der Welt.
Die Niederländerin Maria Peters hat einen Spielfilm gedreht und jetzt auch einen Roman über Brico geschrieben. Peters hatte den Cousin als Informanten. Rex Brico stand seiner Verwandten sehr nahe.
Beobachtet werden ihre Anfangsjahre, so etwas sieht und liest man gern: Wie sie um 1919 als Platzanweiserin, immer wenn die „New Yorker“ zu spielen begonnen hatten, auf die Männertoilette ging: Dort war die akustische Verbindung zur Bühne so gut.
Ihr erstes Durchboxen.
Wie sie in Berlin studierte und Schülerin von Marl Muck wurde, den späteren Hitler-Verehrer, der in Bayreuth darauf achtete, Wagner von keinen Juden singen zu lassen.
Wie sie ein, „Taktstocktyrann“ wurde – ein Dirigent darf, dieser Lehre entsprechend, niemals demokratisch agieren.
Am Verhungern
Nach ihrem bejubelten Debüt 1930 mit den Berliner Philharmonikern und der Gründungen eines Symphonieorchesters, in dem zunächst nur Frauen musizierten, verabschiedet sich die Autorin und Regisseurin Maria Peters: Damit endet ihr Buch. Antonia Brico, die Erfolgreiche.
Was danach kam, taugt nicht für einen Wohlfühlroman.
Von Brico ist der Aufschrei überliefert: „Ich habe fünf Konzerte im Jahr. Aber ich bin stark genug, um fünf im Monat zu haben! Es ist, wie wenn man einem Verhungernden nur ein kleines Stück Brot gibt.“
Sie dirigierte in der ganzen Welt, auch in Österreich, aber immer nur als Gast. Der Komponist Sibelius überließ es ihr, nur ihr, in Helsinki sein Gesamtwerk aufzuführen.
Von den New Yorker Philharmonikern bekam sie zu hören: Leider sitzen im Publikum viele Frauen, und die wollen alle einen Mann als ständigen Dirigenten.
Als sie sich 1945 in Denver, Colorado, bewarb, schlug ihr vom Orchester Verachtung entgegen. Ein Zuhörer von damals, in der Musikbranche tätig, erinnerte sich noch Jahrzehnte später: Es war die beste 3. Symphonie von Beethoven, die er je hörte. Ein US-Musikkritiker schrieb trotzdem: Es ist eine Schande, dass eine Frau dirigiert.
Antonia Brico verdiente deshalb ihr Geld vor allem als Klavierlehrerin.
Unterm Mikroskop
Marin Alsop hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Aber: „Jetzt ist die Tür offen.“ Die #MeToo-Bewegung habe geholfen.
Heute kann ihre junge Kollegin Joana Mallwitz, die „Così fan tutte“ dirigierte und damit als erste Frau in Salzburg eine szenische Opernpremiere leitete, locker feststellen: Sie sei überrascht, wo man überall die erste Frau sein kann. Das sei doch nichts, worauf man stolz ist!
Die an schlechten Erfahrungen reichere Amerikanerin Marin Alsop, jetzt Chefdirigentin des ORF Radiosymphonieorchesters (RSO), erinnert sich: Es ist nicht lange her, da hatte sie das Gefühl, Dirigentinnen seien nur unter dem Mikroskop sichtbar.
Leonard Bernstein war ihr Mentor. Den Unsinn, er könne am Orchesterklang erkennen, ob eine Frau dirigiert, konnte sie ihm nie austreiben.
Maria Peters: „Die Dirigentin“
Atlantik Verlag
Übersetzt von Stefan Wieczorek
336 Seiten
22,90 Euro
KURIER-Wertung: *** und ein halber Stern