Kultur

Berlin: Kunst und Kult mit Björk und Blur

Blur und Björk. Zwei Acts, nach denen man in heimischen Gefilden in den letzten Jahren vergeblich suchte. Beim Berlin Festival, das dieses Wochenende am Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof vor monumentaler Festivalkulisse stattfand, gab es diese raren Boten aus den 90ern gleich im Doppelpack zu erleben.

Massiv

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Björk versetzte am Samstagabend das durchwegs ältere Publikum in Staunen. So massiv, so eindringlich kann die zarte Stimme der isländischen Popikone sein? Ja, kann sie. Mit Unterstützung eines viel-stimmigen Frauen-Chors namens „Graduale Nobili“ aus ihrer Heimat Island und gigantischen, selbstgebastelten Musikmaschinen, die ihre Band ersetzen. Das Gastspiel in Berlin bildete den Abschluss der „Biophilia“-Tour, zur 2011 erschienen Platte der 47-Jährigen.

Das gleichnamige Album basierte auf einer interaktiven App. Dazu sollten bei Auftritten auch Diskursveranstaltungen zum Thema des Albums kommen: Naturphänomene erklärt durch Musik. „Biophilia“ ging sogar in den Lehrplan Reykjaviks, der Heimtatstadt Björks, ein. Bei den Kritiken zum Album stand dann auch vor allem dieser Aspekt des gesamtheitlichen Konzepts im Vordergrund, das mittlerweile auch von Jay-Z und Lady Gaga – beide veröffentlichen dieser Tage Alben, die ebenfalls in App-Form erhältlich sind – übernommen wurde.

Konzept und Kunst

Live konnten sich die 20.000 Besucher am Tempelhofer Flugfeld dann auch von der Kraft der schieren Musik überzeugen. Ein geradezu verhaltenes „Hunter“ bereitete den Auftakt. Herrlich, das Zusammenspiel mit dem 11 Frau starken Chor, der sich im Laufe das Abends auch als veritable Ausflipp-Maschine entpuppen sollte.

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Neben einem DJ hatte sich Björk nur einen Musiker auf die Bühne geholt: Manu Delago. Der Innsbrucker Mulitiinstrumentalist gilt als weltweit profiliertester Hang-Spieler. Hang, das ist, sehr verkürzt, eine umgedrehte Klangschale, mit dem Delago beim wunderbar stimmungsvollen „One Day“ zum Solo-Einsatz kam. Sehr kunstfertig.
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Dafür, dass „Biophilia“ live nichts von seinem Charakter als Gesamtkunstwerk verlor, sorgten auch die Visuals, die auf drei großen Leinwänden über der Bühne eingeblendet wurden. Statt zur Musik zuckender Muster begleiteten sie das Publikum auf eine Reise durch das Universum. Von den Wiesen Islands über den Kontinentaldrift hin zur Milchstraße waren sie mehr als denkbar einfache Effekt-Bringer. Für Staunen sorgte sowieso Björk selbst. Die 47-Jährige tanzt im knallgelben Kleid und mit „Löwenzahn“-Haube (!) über die Bühne.
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Ein wunderbarer Auftritt, der sich am Ende in einem elektronischen Brachial-Gewitter auf die Zuschauer ergoss. Bei „Pluto“ und „Nattura“ wummerten Dubstep-Bässe und Clubbeats und ließen das Publikum ekstatisch zurück. Herrlich. Da kann sich Weichspüler Fritz Kalkbrenner, der aus unerfindlichen Gründen den Abschluss des Berlin Festivals besorgte, noch was abschauen.

Hauptstadtkultur

An den Auftritt von Björk kam Kalkbrenner mit "Sky and Sand" und Co. jedenfalls nicht heran. Aber das Berlin Festival hat sich eben die allseits zitierte Großstadtkultur auf die Flyer und ins Programm geschrieben. Berlin ist zu einer Marke geworden, die freudig bedient wird.

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Berlin, die Stadt der Träumer und Strawanzer. Der Lebenskünstler, Kreativlinge und natürlich Hipster. Beim Berlin Festival schlug sich das zum einen im - vernachlässigbaren - Art Village, bei dem Selbstgebasteltes und –bemaltes, dazu Poetry Slams und Ausdruckstanz angeboten wurden, nieder. Und zum anderen in einem eigenen Clubprogramm, von dem Fritz Kalkbrenner höchstens ein Vorbote war.

Mit Shuttlebussen wurden die Festivalbesucher vom Flugfeld direkt in die Arena X gefahren, wo unter anderem Miss Kittin, Breakbot und Justice (DJ-Set) zeigten, was mit Hauptstadtkultur gemeint sein könnte.

Mission geglückt. Die berühmten Jutetüten (jaja, das heißt Stoffsackerl, aber was will man machen, die nennen das hier halt so) waren dann auch am Berlin Festival zuhauf anzutreffen.

Blur mit Nostalgieshow

Bevor Björk am Samstag ihren fulminanten Auftritt feierte, ging das Berlin Festival mit Blur am Freitag in seine fünfte Auflage. Die Briten gaben einen ihrer raren Festival-Auftritte. Mit „Girls & Boys“ wurde das Publikum direkt in beste Britpop-Jahre zurückkatapultiert. Die durchwegs älteren Semester konnten praktisch alle der 17 Nummern mitsingen.

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Graham Coxon bewies bei „Beetlebum“, dass man auch mit den Haaren Gitarre spielen kann; Damon Albarn, dass er auch mit seinen 45 Lenzen noch übermütig sein kann, als er nach einem missglückten Bodycheck an Phil Daniels, der zu „Parklife“ auf die Bühne gebeten wurde, eine Bruchlandung hinlegte. Sehr fein.
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Zum phänomenalen „Tender“ bescherte sich das Publikum selbst einen magischen Moment, indem es den Refrain „Oh my baby / Oh my baby / Oh why / Oh my“ einfach immer weiter sang. So gut unterhielt in Berlin keine zweite Band.

Synthie-Pop und Postrock

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Zu den beiden Headlinern gesellten sich mit My Bloody Valentine und den Pet Shop Boys noch zwei weitere Nostalgie-Bands, die vor allem dem älteren Publikum ein Lächeln aufs Gesicht zauberten. Letztere feierten ein echtes Hitfeuerwerk ab. Ein Leichtes, bei 22 Top-10-Platzierungen in den britischen Charts. Dass sich Sänger Neil Tennant alle zwei Nummern ein neues Fantasie-Kostüm überstreifte, hätte es da gar nicht gebraucht. Das machte Björk am Samstag viel selbstverständlicher, und selbstverständlich besser.

Zu Bloody Valentine lässt sich außer einem leise geseufzten "Schade" nicht viel sagen. Die Briten spielten auf einer der drei kleineren Bühnen, die jeweils in einem der überdimensionalen Hangars untergebracht waren und litten besonders unter der teils katastrophalen Akustik in den Hallen. Vom Gesang Kevin Shields' war praktisch nichts zu hören. Dafür gab es ausführliche Gitarrensoli wie bei "Honey Power". Auch was.

Dillon und Sohn

Musikalisch gilt es noch "Dillon" und "Sohn" hervorzuheben. Die junge Songwriterin hat ihre Live-Performance zu einer mysthischen Erfahrungswelt weiterentwickelt. Mit indirektem Licht und drängenden Elektrobeats. Die verletzliche, zarte Simme von Dillon ist ja auch auf Platte ein echtes Erlebnis. Auf ähnliche Weise eindrücklich: Der Auftritt von SOHN. Der Engländer mit Homebase Wien lockte eine ansehnliche Traube vor seinen Hangar. Dass SOHN eines der interessantesten Elektronik-Projekte der jüngeren Vergangenheit ist, hat sich offenbar auch nach Berlin durchgesprochen.

Dass beim Berlin Festival auch noch Casper in seiner routinierten Hype-Show („Alle Mittelfinger hoch“) auch Rap… Kollegen (…?) Cro auf den Arm nahm, indem er sich eine Maske auf den Kopf setzte ("Rap und Maske, das klappt immer"); dass die Whites Lies, ihres Zeichens veritable Indie-Stars, in ihrer britischen Heimat auch am Festland mit poppigen Melodien und dem Bariton von Sänger Harry McVeigh überzeugten; dass Left Boy schon am ersten Tag wie schon zuletzt beim Frequency zu (unerklärlichen) Co-Headliner-Ehren kam; und dass Pantha Du Prince den stimmungsvollen Abschluss abseits der Hauptbühne besorgte, sei hier nur noch der Vollständigkeit halber erwähnt.