Kultur

Autor David Grossmann: „Wir leben im Zeitalter der Schamlosigkeit“

David Grossman gehört – neben Amos Oz – zu den wichtigsten und wohl auch mutigsten Schriftstellern Israels. Denn in mehreren Büchern und Beiträgen äußerte er kritisch zum Nahostkonflikt. Er plädiert dafür, auch die andere Seite zu verstehen. 2011 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der KURIER traf Grossmann, zur Wien-Premiere der Dramatisierung von „Kommt ein Pferd in die Bar“ (Kritik unten) angereist, im Sacher.

KURIER: In Ihrem Roman „Ein Pferd kommt in die Bar“ macht der Alleinunterhalter Dov Grinstein nicht nur schlechte Witze – er übt auch Kritik an Israel und den Siedlern. Darf er denn das?

David Grossman: Dovele ist extremer als alle Stand-up-Comedians, die ich in Israel sah. Die meisten wollen sich nicht mit der Situation auseinandersetzen. Denn sie wissen: Wenn sie die Wunde berühren, verlieren sie die Hälfte ihres Publikums. Sie wollen kein Risiko eingehen. Stand-up-Comedy ist eine zynische Kunstform. Man kann ihr heute nicht entkommen. Selbst die Nachrichten sehen manchmal so aus! Und ! Das Publikum will in einem wohligen Bad schwimmen. Nicht mehr.

Wirklich nur die Hälfte des Publikums? Gibt es nicht eine eindeutige Tendenz in Israel?

Vielleicht bin ich zu optimistisch. (Er lacht verhalten.) Ich denke, es ist mehr oder weniger die Hälfte. Aber selbst der gemäßigtere, friedliche Teil will nicht mit Politik in Berührung kommen.

Das ist neu, oder?

Das ist ein Phänomen der letzten 10, 15 Jahre.

Also aufgrund der Maßnahmen Israels nach der zweiten Intifada mit den Busbomben?

Die Menschen sind gelähmt von der Situation. Sie glauben nicht, dass etwas verändert werden kann. Die Situation wird zu kompliziert für sie. Denn es gibt keine schnelle Lösung. Und daher beginnen die Menschen zu verzweifeln – allein daran, die Situation verstehen zu wollen. Die natürlichste Reaktion ist, sich zu davon zu distanzieren, loszulösen. Es ist zu schmerzhaft, die Zukunftsaussichten sind furchtbar: Entweder wird Israel ein Apartheid-Staat, oder es wird immer weniger demokratisch bzw. immer fanatischer. Das sind für jeden normalen Menschen, also die meisten, schreckliche Aussichten. Die Strategie daher? Ein gutes Leben zu führen. Israel bietet viele Möglichkeiten, dem zu entkommen – inklusive Stand-up-Comedy.

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Gibt es einen Weg zurück – in Richtung einer Lösung?

Wir sollten niemals dorthin zurückkehren, wo wir vor 15 Jahren waren. Dieser Konflikt hat in den Bürgern gewisse Eigenschaften geweckt – Hass, Rassismus, Fanatismus. Die sind ins Blut übergegangen. Es wird sehr schwierig, das zurückzuführen in eine Ära mit mehr Optimismus, mehr Hoffnung. In dieser Hinsicht wäre es, selbst wenn der Frieden heute käme, zu spät. Aber natürlich wünschte ich das.

Wie können Sie derart Israel-kritisch schreiben, ohne Ihr halbes Publikum zu verlieren?

Ich denke, viele Menschen in Israel mögen meine politische Einstellung nicht. Ich verstehe sie! Aber selbst einige Rechte lesen meine Bücher. Denn sie fühlen, dass meine Literatur für sie relevant ist. Auch, weil mein Zugang nuanciert ist. Es interessiert mich zu sehen, was mit Menschen passiert, die seit drei Generation in einem Kriegszustand leben. Das wollen die Rechten auch wissen. Wir sehen einander in Klischees. Ich kenne viele Siedler – ich diskutiere mit ihnen, lerne mit ihnen. Ich kann ihnen nicht die Menschlichkeit, die Komplexität absprechen. Ich will mit der Realität in Kontakt bleiben, auch wenn sie mich erschüttert. Das tut sie wirklich.

Kann die Literatur mit diesen Nuancen die Politik beeinflussen oder zumindest die Diskussion in eine Richtung lenken?

Wenn es so wäre, wären wir in einer ganz anderen Situation. Unser Zugang zu allem ist trübe, dickhäutig. Nuancen erfordern Energie und Aufwand. Wir haben die Energie zur Nuance verloren. Literatur heißt, etwas Präzises in einer trüben Welt zu machen. Und auf den Nuancen zu beharren. Auf lange Sicht kann das etwas beeinflussen. Wenn man sich alten Geschichten mit einem neuen Vokabular nähert, sind die Menschen darauf nicht vorbereitet. Sie können nicht ihre gewohnten Klischees verwenden, um zu rechtfertigen, was sie tun. Und die Literatur kann darauf beharren, die großen Systeme nicht die Sprache verändern zu lassen. In einer verzerrten Situation wie der unseren ist das erste, was manipuliert wird, die Sprache. Von der Regierung, der extremsten, fanatischsten, rechten Regierung, die Israel je hatte. Von der Armee, von der Polizei und von den Medien. Die schaffen eine selbstgerechte Atmosphäre des Kitsches. Literatur hingegen zwingt die Menschen, Dinge richtig zu benennen. Eine Besetzung etwa „Besetzung“ zu nennen. Ich wurde aus dem israelischen Radio gefeuert, weil ich darauf bestanden habe.

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Diese Attacke auf die Sprache gibt es derzeit überall. Trumps Anwalt hat gesagt: „Die Wahrheit ist nicht die Wahrheit.“

Und Massenmedien machen aus normalen Menschen eine Masse – durch Kitsch, Sentimentalität, Wir-Gefühl. Es ist widerlich, wie einfach es ist, zu manipulieren. Was Orwell vor fast einem Jahrhundert schrieb, ist Teil unseres Lebens.

Aber viele Menschen scheinen auch übermäßig bereit, sich manipulieren zu lassen.

Ja, denn wenn man sich dem verweigert, muss man handeln. Wir leben im Zeitalter der Schamlosigkeit. Alles kann gemacht, gesagt werden. Es gibt keine festen Kriterien dessen mehr, was nicht geht. Jahrzehntelang war eine Art des Antisemitismus wegen der Shoah unmöglich. Aber jetzt, nach 70, 75 Jahren, beginnt die Scham zu verdampfen. Es ist keine Schande mehr, antisemitische Dinge zu sagen.

Und die israelische Politik spitzt den Konflikt weiter zu: Arabisch ist nicht mehr offizielle Sprache in Israel.

Man kann keine Sprache eliminieren oder entwerten! Eine Sprache ist Kultur, Identität. Das war ein schrecklicher Schlag gegen den Stolz und die Ehre der palästinensischen Israelis, eine Erniedrigung. Die machen ein Fünftel unserer Bevölkerung aus. Wir israelischen Juden waren überall, wo wir waren, eine Minderheit. Es ist eine Herausforderung, nun als Mehrheit auf faire und würdige Art zu handeln. Wir müssen lernen, als Mehrheit zu agieren. Aber wir fühlen uns als Minderheit, denn wir sind umgeben von 300 Millionen arabischen Muslimen, die offen sagen, dass sie uns nicht wollen. Die Palästinenser in Israel gehören im Herzen zu dieser Mehrheit. Es ist ein komplizierter Tango.

Hat sich das Umfeld zuletzt nicht etwas verändert? Ägypten und Saudi-Arabien scheinen offener gegenüber Israel – wegen des erstarkenden Iran.

Völlig richtig. Die sunnitischen Länder sind durch den Iran verängstigt – und durch die extremistischen muslimischen Organisationen wie Al Kaida und ISIS. Israel hätte diese neue Situation besser nützen sollen: Diese Länder lieben uns nicht, wir sind nicht in Hollywood, aber sie sind an uns herangetreten und haben Interesse an unserer Macht.

Es soll ja israelische Luftschläge im Sinai gegeben haben.

Das habe ich auch gelesen. Israel gibt das nicht zu. Wir könnten das Interesse für die Verhandlungen bezüglich der Palästinenser nützen. Die können keine Vereinbarung treffen, wenn Jordanien, Ägypten und Saudi Arabien nicht zustimmen. Und die könnten nun Druck ausüben. Aber Israel macht nicht einmal einen ernsthaften Schritt in diese Richtung.

Und Donald Trump?

Ah, wir kommen zurück zur Stand-up-Comedy! (Er lächelt.) Trump unterstützt die Illusionen, die wir haben, und löscht die Komplexität der Realität einfach aus. Aber wollten wir nicht über Literatur reden? Da sieht man, wie dieser Konflikt vereinnahmt.

Im deutschsprachigen Raum lesen, wie Untersuchungen zeigen, immer weniger Menschen Bücher. Ist das in Israel auch so?

Ja. Das ist unausweichlich, mit den neuen Medien und all den Verlockungen. Die Menschen sind es leid, in ihren Gefühlen herausgefordert zu werden. Es ist leichter, in Klischees zu denken, als in die Nuancen der Seele einzutauchen. Als ich ein Kind war, gehörte es zum guten Ton, über Literatur zu reden. Aber nur wenige Kinder lasen wirklich. Heute gehört es nicht einmal mehr zum guten Ton. Ich glaube aber immer noch an die Kraft der Literatur: Sie stellt Fragen, sie bietet keine Antworten. Deshalb liebe ich sie, sie ist im Graubereich der Zweifel und der Zögerlichkeit und des Was-wäre-Wenn ...

Kritik: Es wird mucksmäuschenstill, wenn Dovele sich erinnert

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Kritik. Die Dramatisierung des berührenden Romans „Kommt ein Pferd in die Bar“ von David Grossman durch Dušan David Pařízek ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich eine Inszenierung weiterentwickelt. Und dass die Uraufführung bloß als Etappe angesehen werden darf.

Im Programmheft der Salzburger Festspiele wurde für die Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin und der Burg eine Spielzeit von drei Stunden angegeben; tatsächlich waren es 2 Stunden 40 Minuten. Diese Zeitangabe findet sich nun im Programmheft des Akademietheaters. Doch die Wien-Premiere dauerte bloß Zweieinviertel Stunden. Sie wurde, völlig zu recht, bejubelt.

Pařízek blieb seinem Konzept der starken Metaphern treu, aber er kürzte vor allem im Mittelteil, der viel zu langatmig geraten war. Und Samuel Finzi dürfte sich die Kritik zu Herzen genommen haben. Er spielt den Stand-up-Comedian Dov Grinstein nicht mehr nur für die ersten sieben Reihen, sein Blick schweift durch den ganzen Saal – und dann macht er auf dem Balkon eine Frau aus, der er zu den vollen Lippen gratuliert: „Botox de luxe!“

Samuel Finzi, der die gewaltige Textmenge mit Leichtigkeit bewältigt, spricht – im Gegensatz zur Uraufführung – selbst in den leisen Passagen deutlich und klar. Vielleicht war auch nur das Republic der falsche Ort. Das Akademietheater hingegen erlaubt Intimität, es gestattet Zwischentöne, Zärtlichkeit.

Das merkt man besonders in den Dialogen mit Mavie Hörbiger als Pitz, die nun ein zerbrechliches, scheues, zu Tränen gerührtes Wesen ist, dem aber auch der Schalk im Nacken sitzt. Sie steht – als Gegenstück zu den Guten Werken beim „Jedermann“ – dem Dovele bei, den sie seit Kindertagen kennt: Für sie ist er „der gute Junge“. Auch deshalb, weil er sie nicht mobbte.

Vor dem Richter

Nun, just an seinem 57. Geburtstag, gibt dieser Kauz, der viele Schläge einstecken musste, seine Abschiedsvorstellung: Er stellt sich seinem Richter, macht sich „nackt bis auf die Prostata“ – und kehrt sein Innerstes nach außen.

Zunächst glaubt Dov, sein Publikum mit provokanten Ansagen und schlechten Witzen unterhalten zu müssen. Finzi animiert zum Mitsingen und Fingerschnipsen, er projiziert Close-ups von sich – und dann stürzt er die Wand hinter sich um. Sie dient nun als Podest. Und es wird, wie in Salzburg, mucksmäuschenstill. Denn Finzi erzählt, während er – wie vor einem Grab – rote Blumen fallen lässt, von einem tragischen Verlust.

Dass Pařízek die Figur des Erzählers gestrichen hat, bleibt das einzige Manko.

THOMAS TRENKLER