Kultur

Anna Netrebko: Die neue Super-Tosca

Peter Gelb, der Intendant der New Yorker Metropolitan Opera, hatte es im persönlichen Gespräch schon vor der Aufführung angedeutet: Er hätte noch nie eine bessere Tosca gehört (obwohl die Probenphase ja zeitlich ziemlich überschaubar gewesen sein soll). Der Autor dieser Zeilen schließt sich vollinhaltlich an: Was sich am Samstag im weltgrößten Opernhaus ereignete, war exzeptionell.

Anna Netrebko sang erstmals in ihrer Karriere die Partie der Floria Tosca in Puccinis so häufig (und so selten durchwegs überzeugend) gespielter Oper. Allein an der MET handelte es sich nun um die 960. Aufführung von „Tosca“. Mr. Gelb, seit zwölf Jahren General Manager des Theaters am Lincoln Center, kann also allein schon an seinem Haus auf zahlreiche Vergleichsmöglichkeiten zurückgreifen.

Anna Netrebko als Tosca – das ist (noch) nicht Perfektion, das ist nicht reiner Schöngesang, das ist höchste Intensität, Glaubwürdigkeit, Ausdruck, das perfekte Verschmelzen mit einer Partie. Den folgenden Satz werden Sie von Ihrem Kritiker nicht oft lesen, aber es muss gesagt sein: Hier ist es fast egal, wenn die angeblich recht neue Inszenierung grauenhaft altmodisch aussieht und keinerlei Relevanz, keine analytische Kraft hat.

Ein Meisterwerk

Anna Netrebko als Tosca – das ist wie ein Meisterwerk in einem Museum, das jeder sehen will und bei dem sich wohl nur die wenigsten Gedanken über den Kontext oder die Hängung machen.

Aber was macht Netrebko so besonders in gerade dieser Rolle? Sie war ja zuletzt auch als Aida in Salzburg extrem erfolgreich, als Maddalena di Coigny in „Andrea Chénier“ an der Scala oder als Elsa in „ Lohengrin“ in Dresden, als Lady Macbeth in München oder als Leonora im „Trovatore“, an vielen Häusern und auch in Wien. Die Antwort lautet: Sie singt die Tosca exakt zum richtigen Zeitpunkt. Viele wagen sich zu früh an diese Rolle und müssen sich in einem Gewaltakt bis zum Finale, zum Sturz von der Engelsburg, retten. Andere singen die Tosca noch zu spät, zu dramatisch, mit scheppernder Stimme. Netrebko, schon bei ihrem Erscheinen auf der Bühne mit Auftrittsapplaus bedacht, nimmt sich der großen Puccini-Diva am Zenit ihrer Karriere an (wobei Zenit? Wer weiß, was bei ihr noch kommt).

Ihr Sopran ist über die Jahre hinweg zunehmend dramatisch geworden, dabei aber traumhaft schön geblieben. Sie hat ausreichend Kraft und stimmliche Substanz in allen Lagen und wechselt mühelos die Register. Jeder Ton macht Sinn bei ihr, hat Bedeutung, egal, ob diese aus den Proben oder ihrem Instinkt entspringt. Ihre Ausbrüche sind mitreißend, ihre Lyrismen berührend. Allein, wie sie mit ihrem dunklen Timbre das „Vissi d’arte“ gestaltet, als todtraurigen Monolog einer vom Schicksal gepeinigten Frau, als Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben, als Anrufung des Himmels, ist atemberaubend. Hier geht es in keiner Sekunde um Effekte. Anna Netrebko singt hier nicht Tosca, sie wird zu Tosca. Toscanna. Und dazu spielt sie, von einer mutmaßlichen Regie wohl unberührt, überzeugend: Ein fröhliches, naives Mädchen im ersten Akt, eine leidende Diva im zweiten und eine leidenschaftlich Liebende im dritten.

Damit wir aber aus dem Schwärmen herauskommen, wenden wir uns dem Umfeld zu. Yusif Eyvazov, der Netrebko auch im Eheleben verbunden, ist der Cavaradossi an ihrer Seite, ursprünglich war Marcello Álvarez vorgesehen. Eyvazov singt die Partie mit Hingabe, mit Leidenschaft, bietet alles, was er hat, auf – das ist gar nicht so wenig. In jenen Momenten, in denen die Stimme glänzen müsste, ist sie aber nicht sonderlich schön, man hört die Limits, auch bei der Intonation. Sein Cavaradossi ist aber besser als zuletzt der Chénier in Mailand. Den Buhs begegnete er dergestalt, dass er sich hinkniete und den MET-Boden besonders würdigte.

Michael Volle ist ein gefährlicher, höchst viriler Scarpia mit stimmlichen und körperlichen Attacken und eine sehr gute Besetzung – viel rollendeckender als zuletzt Ludovic Tézier bei den Salzburger Osterfestspielen. Auch das MET-Orchester spielt unter der Leitung von Bertrand de Billy differenziert, farben- und temporeich, dramaturgisch ausbalanciert. De Billy, der innerhalb von 24 Stunden drei Opern an der MET dirigierte („Cendrillon“, „Luisa Miller“, „Tosca“), lässt die Diva glänzen, zieht aber seine Lesart eines packenden Krimis famos durch.

Kein Meisterwerk

Na gut, dann halt doch noch kurz zur Inszenierung, die Luc Bondys erfolglose von 2009 ersetzte: Sie stammt von David McVicar und ist optisch dem Jahr 1800, als die Schlacht von Marengo stattfand, verpflichtet, Rokoko-Behübschungen vermittels vazierender Statisten inkludiert. Die Neuproduktion hätte am Silvesterabend 2017 von Kristine Opolais und Jonas Kaufmann mit Leben gefüllt werden sollen, beide (sowie Bryn Terfel als Scarpia) sagten ab. An ihrer Stelle sangen Sonya Yoncheva und Vittorio Grigolo. Auch der Dirigent musste getauscht werden, für den entlassenen James Levine sprang Emmanuel Villaume ein. Nun, mit der „Zweitbesetzung“, wurde eine der chaotischsten MET-Produktionen der Geschichte zum Triumph.

Wie sie konkret aussieht? Denken Sie an „Tristan“, „Falstaff“, „Adriana Lecouvreur“ und „Ariodante“ an der Wiener Staatsoper, ebenso alles von McVicar, dann bekommen Sie eine Idee von diesem szenischen Nichts.