Kiku

Schmetterlingshaft

In der Abenddämmerung verschwinden die Blicke aus dem Fenster. Die Blicke aus dem Fenster werden zu Blicken in den Spiegel. Wir sehen uns und das Licht in unserem Raum und den Blick aus dem Fenster nur als dunklen Hintergrund. Hinter dem Spiegel ist es dunkel. Drinnen hingegen brennt das Licht lodernd von der Decke und gelbliche Schirme formen es kreisrund. Von Tisch zu Tisch verschwimmen die hellen Kreise ineinander und der Raum ist von Wärme erfüllt. Aus dunklem Holz sind die Tische, auf den Sesseln liegen die roten Polster plattgedrückt. Die Luft ist rauchig und blass und wo die Staubkörnchen tanzen sollten, schwebt nur das rege Stimmengewirr.

Dann sitzt Hans da. Wenn er aus dem Fenster schaut, sieht er seinen Blick und den Rücken seiner Frau. Die baumelnden Äste bilden die Wasserzeichen. Außerdem sieht er den kreisrunden Tisch an dem er mit ihr sitzt und isst.

Er verabscheut den Salat. Die Kartoffeln sind ihm zu zerkocht. Gelb steht der Salat in der weißen Schüssel vor ihm, bestrahlt von der Lampe dort oben. Das Salz ist zu viel. Er mag den versalzenen zerkochten Salat nicht. Die Zwiebeln zu klein. „Besser könnte der Salat nicht sein!“, sagt seine Frau, und ein warmes Lächeln schenkt sie dem Kellner. Hans schaut abschätzig in ihr Gesicht und schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie zögert und blickt besorgt. „Scheußlich ist der Salat“, sagt Hans und ein röchelndes Lachen keucht aus seiner Kehle, kratzig tief. Er hustet krächzend und das Husten taucht ein in die zur Faust geballte, rechte Hand.

Der Kellner ist jung. Groß und dünn ist er, auch die Haare trägt er gleichmäßig kurz. Rot ist das Gesicht. Ganz dunkel in der Stirn und heller dann nach unten hin. Mit der Beschwerde weiß der Kellner nichts anzufangen. Die Stimme stockt, als er spricht. Er entschuldigt sich. Die Finger sind lang und die Hände verschwitzt. Als er sie abwischt, an der hellen Schürze, bleiben dunkle Flecken. Und noch dunkler wird sein rotes Gesicht. Mit großen Schritten verschwindet er von Hans' Tisch. Die Schritte sind federnd und sein Hauch von Nervosität bringt die Schürze zum flattern.

Der linke Mundwinkel von Hans zieht sich unwillig zur Seite. Er brummt bloß, denn seine Augen sprechen für ihn. Unzufrieden ist Hans' Blick. Weich streicht Elfriedes Daumen über seinen Handrücken. „Schatz“, ihre Stimme ist vorsichtig und leise, auf ihren Lippen liegt ein ängstliches Lächeln. „Musste das sein?“, fragt sie. Ihre Hand sieht aus wie die von einem kleinen Mädchen, die Finger sind kurz und dick. Sie wandern hinauf zu seinen Haaren die im schlaff in die Stirn hängen und sie streichen ihm über den grauen Scheitel. Grob fährt er sie an. Dann seufzt er. Ohne etwas zu erwidern, wendet sich Eli ihrem Essen zu. Ihre Augen glänzen matt.

Er verabscheut den Salat. Die Kartoffeln sind in Kernöl getränkt. Er wird den Salat übrig lassen. Steirisch ist der Salat, zu salzig ist der Salat. Hans mag das orangefarbene Gulasch. Der Teller ist tief, fast ist er schon eine Schüssel. Das Gulasch ist fast schon eine Suppe. Dazwischen sitzt das Fleisch das Hans verschlingt. Ölaugen beäugen ihn von seinem Essen aus. Sie gleiten über die Oberfläche, schlittern erwartungsvoll aufeinander zu und bilden Blasen, die glasig dahin schwimmen. Bloß ist es zu wenig, es ist immer zu wenig und Hans' Lippen glänzen fettig. Er schleckt seine Finger ab. Die raue Oberfläche der Serviette ist von gelben Gulaschflecken besprenkelt. Sie sind von dunklen Rändern umgeben. Hans hat eine der weißen Stoffservietten auf seinem Schoß ausgebreitet. Sein Bauch überragt sie bis zur mittleren Falte. Hans liebt das Fleisch. Er versenkt die Gabel in dem triefenden Semmelknödel und der saugt sich mit roter Paprikasoße an.

„Herr Ober!“, Hans Stimme ist laut und fordernd, während er das letzte Stück hinunterwürgt. Die öligen Finger schnipsen in der Luft und der Kellner hat ihn gehört. „Noch zwei?“, fragt dieser und die dunkelbraunen Augen wandern von den leeren Krügen zu Hans. „Noch zwei. Eines für die schöne Frau neben mir und eines für mich“, sagt Hans und grinst und lacht tief und kurz. Der Ober nickt und packt die Gläser mit einer Hand. Eli schenkt Hans einen lieben, vergebenden Blick und er küsst sie auf den Kopf.

Tina mag den Salat. Zwar ist er nicht so gut wie Omas, aber gut ist er immer noch. Sie mag die süßen Zwiebeln und den Geschmack von den weichen Kartoffeln auf ihrer Zunge. Aber trotzdem ist er anders als Omas Salat. Wegen dem Kernöl vielleicht, denkt Tina und sie erinnert sich, dass er dann steirischer Salat heißt. Das hat Mama ihr vorhin noch erklärt. Vorsichtig schiebt Tinas Mama ihr Bissen für Bissen auf die Gabel. Zwischen Daumen und Zeigefinger hält sie das Besteck umschlossen und balanciert das Essen über den Teller hinweg. Wenn sie Tina ansieht leuchten ihre Augen liebevoll. Der Bissen auf der vierzackigen Gabel ist für Mama wie ein Flugzeug und sie macht das passende Geräusch dazu. Brumm brumm, Tinas Mama grinst und Tina rollt in Gedanken mit den Augen. Tina ärgert sich. Sie ärgert sich, weil sie zwar noch ein Kind ist, aber sie ist schon ein Großes und das sollte Mama begreifen. So etwas Kindisches findet sie eigentlich schon lange nicht mehr lustig. Tina ärgert sich, aber sie ärgert sich nicht lange. Als sie Mama anschaut und das brummende Gesicht sieht, formen ihre wunden Lippen dennoch einen Halbmond. Bald setzt das Flugzeug auf der Landebahn auf. Einen weiten Weg hat es hinter sich, über die Berge und Täler des Tisches. Durch den gelblichen Nebel ist es geflogen, durch einen Wörter-Wirbelsturm, durch einen Dunst, der nach Wirtshaus riecht, und genau dort sitzt Tina mit ihrer Mama und der Oma. Und kein Wunder, denkt sich Tina, dass der Pilot ihren Mund nicht erkannt hat, in der verrauchten Luft. Im nächsten Moment fängt sie an zu kichern weil sie das gerade wirklich gedacht hat. Sie hat den Bissen ernsthaft mit einem Flugzeug verglichen. Dabei findet sie das eigentlich kindisch. Tinas Schultern hüpfen, während sie lacht und dazwischen schnappt sie nach Luft. Mama und Oma haben Lachfalten, stellt sie fest und schon landet das Flugzeug in Tinas Mund.

Sie spürt die Schmerzen, aber sie spürt sie schon lange. Lindern tut es das jedoch nicht. Tina kommen die Tränen, aber die kommen ihr bei jedem Bissen. Jetzt werden die Lachtränen von den traurigen dicht verfolgt. So fühlt sich Essen für Tina an. Es fühlt sich an als würde sie das Besteck zerkauen und nicht den Salat. Aber Tina hat noch nie wirklich Salat zerkaut, sondern immer nur scharfe Messer und Gabeln. Deshalb hat sie den Vergleich nicht.

Bei dem Bestellen hat Mama das Übliche gesagt. Tinas Salat ist jetzt mild. Die Hauptspeise die sie sich mit Mama teilt, ohne irgendwas. Der Kellner ist nett gewesen. Der große Dünne mit den kurzen Haaren. „Ein langer Lulatsch,“ hat Oma Tina hinter faltiger Hand zugeflüstert. Oma hat gekichert und Tina damit angesteckt. Tina hat ein neues Wort gelernt. Das findet sie wirklich lustig und Oma hat ihr vielsagend zugezwinkert. Mama hat Oma mahnend angeschaut. Spielerisch hat sich Oma geduckt. Tina ist ein Kieksen entwischt.

Die Seitenblicke von Oma sind besorgt. Das spürt Tina und sie sieht es aus den Augenwinkeln, wie sich die Augenbrauen zusammenziehen. Wenn sie sich umdreht zu Oma und sie anschaut, dann verwandelt sich ihr Gesicht. Dann setzt Oma die Freude auf und die Sorge scheint nur trüb hindurch. Oma lächelt, sie macht die Augen ganz groß und beugt sich ganz nah zu Tina hin, über den runden Tisch hinüber. Fast berühren sich die zwei Nasen, fast zum Kitzeln so nah, und Oma schickt Tina einen Kuss durch die Luft. Tinas Augen leuchten und für einen Moment vergessen Mama und Oma die Sorgen ganz. Omas Hände sind runzlig und ihre Fingernägel sind kurz. Als Kind hat sie immer Nägel gekaut, ständig, sagt sie und deshalb sind die heute noch immer so stumpf. Tina soll nie damit anfangen. Tina könnte niemals Nägel kauen. Tinas Hände liegen in ihrem Schoß. Tinas Hände sind nicht zu sehen. Tinas Hände sind weiß umwickelt. Ihre Hände sind kaum zu gebrauchen. Omas weiche Hände ruhen auf dem Tisch. Immer cremt sie sie ein. Dabei hat Tina sie schon oft beobachtet. Die Creme riecht gut, Tina liebt den Duft. Wenn er in der warmen Luft des Badezimmers schwebt. Mit dem Zeigefinger und dem Ringfinger umschließt Oma den Stiel ihres Weinglases. Darin liegt eine kleine rote Lacke. Ein Achtel Rotwein hat sich Oma vorhin bestellt. Ein Achtel ist wenig, findet Tina. Aber Oma ist eine Genießerin und sie trinkt es nur in Mäuseschlücken.

Wegen Oma sind sie hier. Oma hat Geburtstag. Oma wird schon 68. Weil Oma hier immer mit Opa war. Rehfilet hat er immer gegessen. Mit Preiselbeeren, dunklen, rosa Preiselbeeren, erzählt Oma immer und ihre Augen sind glasig wenn sie von Opa spricht. Wegen Tina und Mama sind sie ja nicht hier. Mama mag verrauchte Lokale nicht. Besonders mit Tina will sie da nicht hin. Doch für Oma geht das einmal im Jahr. Oma lächelt, wenn sie durch die Wirtshaustür tritt und ihren Mantel ablegt. Mama und Tina mögen dieses Lächeln beide gleich. Tinas Mama hat einen Kuchen für Oma bestellt. Ganz heimlich hat sie es dem Kellner zugeflüstert. Verschwörerisch hat dieser genickt. Tina kann es kaum erwarten. Sie liebt die leuchtenden Sprühkerzen. Tina liebt es, wenn sich die Torte mit den Kerzen im Fenster spiegelt. Und sie sich daneben erkennt, die Hände unter dem kreisrunden Tisch. Im Fenster sind Tinas Wunden fast kaum zu erkennen. Die sprühende Torte und Oma und Mama und sich sieht Tina nur, wenn es dunkel hinter dem Fenster ist.

„Du Hans?“, mit ihrer linken Hand bringt Eli den Gurt zum Einrasten. Das Metall ist kalt unter ihren Fingerkuppen. Sie lehnt sich zurück in den weichen Beifahrersitz und streicht über das helle Kunstleder, bis sie mit ihrer auf Hans' Hand liegt. „Das kleine Mädchen, das hast du schon gesehen? Das arme Kind. Sieht man auch nicht alle Tage, nicht wahr?“, Eli hustet und lockert ihren gemusterten Schal. Mit ihren Fingern fährt sie zwischen Stoff und Hals und reißt daran. Hans brummt und entzieht seine Finger denen seiner Frau. Hans Hände umklammern das Lenkrad. Elis Blick ist verletzt und Hans' starr geradeaus gerichtet. Die Scheinwerfer des Autos schmeißen grelle Dreiecke auf den nassen Asphalt. „Muss schrecklich sein, auch für die Eltern, in deren Haut möchte ich nicht stecken, möchte ich wirklich nicht.“ Eli blickt aus dem Fenster. Sie lächelt traurig. Die Scheibe ist angeschlagen und draußen ist es dunkel. Eli schweigt. Hans drückt aufs Gas. Das Navi zeichnet ein bläuliches Rechteck in sein Gesicht.

Paula Dorten
BG Bachgasse Mödling

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Aus der Begründung der Jury

Der Text überzeugt durch die sprachlich gekonnte Ausführung des Themas und seine gelungenen Charakterzeichnungen, wobei geschickt mit Kontrastierungen gearbeitet wird.

Die Autorin/der Autor beobachtet genau und vergleicht – u. a. die Hände aller ihrer Figuren: „Omas Hände sind runzlig und ihre Fingernägel sind kurz. Als Kind hat sie immer Nägel gekaut, ständig, sagt sie und deshalb sind die heute noch immer so stumpf. Tina soll nie damit anfangen. - Tina könnte niemals Nägel kauen.“ Tinas Hände sind verbunden und als einzige nicht sichtbar: Die Haut von Schmetterlingskindern ist dünn und muss geschützt werden – im Gegensatz zu Hans´ dicker Haut, seiner geballten Faust, in die er hustet, weil ihm der Salat nicht schmeckt.

(…)

Auch Eli, die Ehefrau, hustet, als sie sich im Auto auf die Heimfahrt machen: „Eli hustet und lockert ihren gemusterten Schal. Mit ihren Fingern fährt sie zwischen Stoff und Hals und reißt daran.“ Ihren Mann berührt nicht, was sie über das Mädchen und die Familie sagt: „In deren Haut möchte ich nicht stecken.“ Er ignoriert es.

Bestechend zudem die atmosphärische Dichte des Textes: Licht, Luft, Farben und Stimmung im Wirtshaus (wohl das letzte Raucherlokal!) werden hervorragend eingefangen. Die Beschreibungen beziehen alle Sinne ein. Man spürt förmlich, wie sich die Speisen in Tinas Mund anfühlen, schmeckt den weichen Kartoffelsalat, riecht den Duft von Omas Handcreme und hört das metallische Einrasten von Elis Gurt.

Ein sensibel und einfühlsam erzählter Text über Grobheiten und Empfindsamkeit, Genuss und Gier, und das Wegschauen beziehungsweise Ignorieren Anderer und derer Befindlichkeiten.