Wie das Internet den weiblichen Orgasmus verändert
Von Anja Krämer
Ob der „Lemon Song“ von Led Zeppelin, „Diced Pineapples“ von Rick Ross oder „Kiwi“ von Maroon 5: War im Laufe der vergangenen Jahrzehnte von Obst bei Rock und Pop die Rede, war damit selten gesunde Ernährung gemeint, sondern Sex – und der „Pfirsich“ ist dabei die Angebetete oder Stellvertreter für bestimmte Körperteile. Die vielfach gezeigte und diskutierte halbierte, geschälte Grapefruit für das weibliche Geschlecht erfährt eine neue Konnotation, die sich im gesellschaftlichen Themenkomplex mit einer Enttabuisierung der Geschlechtsorgane äußert. Für Frauen bedeutet diese neue Ebene der sexuellen Revolution ein neues Verhältnis zum eigenen Geschlecht – im doppelten Sinn.
Furore untenrum
Von der Musik ist der intime Fokus jüngst auch in die bildende Kunst gewandert: Die Künstlerin Gloria Dimmel fertigt in ihrer Privatwohnung in Wien Abdrücke von Vulven an, wozu sie die für Furore sorgende „Great Wall of Vagina“ des Briten Jamie McCartney inspiriert hat. McCartneys Mauer ist jedoch falsch betitelt, denn die Abdrücke zeigen die Vulva, den sichtbaren Teil des weiblichen Geschlechts. Die Unterscheidung von Vagina, Vulva, Klitoris und Co. ist oftmals nicht einmal allen Frauen klar.
Nach der Vagina, die biologisch den Muskelschlauch bezeichnet, der zur Gebärmutter führt, haben zwei Medizinerinnen aus Norwegen ihr Aufklärungswerk benannt – „Viva la Vagina!“ von Ellen Støkken Dahl und Nina Brochmann hat ein erklärtes Ziel: „Fundiertes Wissen über die Funktionsweise des Körpers wird es Frauen erleichtern, in einem geschützten Rahmen eigene, selbstsichere Entscheidungen zu treffen. Die Sexualität gehört entmystifiziert, und wir müssen klarstellen, dass wir über unseren Körper selbst bestimmen.“
Diese Reise von der Vulva bis zum Eierstock klärt nicht nur grundlegende Dinge auf eine fundierte, aber wie von einer Freundin bei einem Glas Wein erzählten Art und Weise, sondern fegt auch viele Mythen vom Tisch. So ist das sagenumwobene Jungfernhäutchen „keine Frischhaltefolie, die reißt, sobald man hineinsticht“, sondern das Hymen ist vielmehr eine Art Kranz, der sich anatomisch bei jeder Frau anders gestaltet. Nach dem Ende hormoneller Verhütung bauen sich die Hormone nicht linear ab und die Klitoris ist wie die Spitze des Eisbergs, nämlich weit mehr als nur der „sichtbare Knubbel“.
Sextroversion
Sind die anatomischen Ungereimtheiten erst einmal aus dem Weg geräumt, liegt das Augenmerk wie schon während der „alten“ sexuellen Revolution in den späten 1960ern und frühen 1970ern auf dem eigentlichen Höhepunkt der sexuellen Revolution: der Liebe. Sexualität als Frauenrecht machte damals die Einführung der Antibabypille (Kontrazeptiva) und der straffreien Abtreibung möglich. „Waren es die Entkoppelung von Sexualität und Fortpflanzung, die hier für Frauen völlig neue Welten erschlossen, so geht die ,neue’ sexuelle Revolution mit einer Autonomisierung unserer Triebe einher“, konstatiert die Münchner Sexualtherapeutin Heike Melzer: „Drehscheibe der Veränderung ist diesmal weniger die Fortpflanzung als vielmehr die Befreiung unserer Triebe durch die Möglichkeit, Lust völlig autonom in einer Welt sexueller Superstimuli zu erleben.“
Mit Superstimuli meint sie Pornos, andauernd wechselnde Sexpartner oder Hightech-Sex-Toys. In ihrem neuen Buch „Scharfstellung“ führt sie das sich wandelnde Sexleben der Gesellschaft – ihre Peergroup sind ihre Patienten – auf das Internet zurück, das „Sex von der Leine gelassen“ hat. Der so digital beschleunigte Sex des 21. Jahrhunderts habe nicht nur dramatische Auswirkungen auf unser Beziehungsverhalten, Privat- und Arbeitsleben, sondern führe zu einer Liberalisierungswelle sexueller Präferenzen.
Konditionierte Lust
Für Frauen hat das in der Quersumme vor allem eines zur Folge: einen Orgasmus. Denn der ist heute selbstbestimmt. „Die männlich dominierte Medizinwelt hat kein besonderes Interesse daran, die Klitoris weiter zu erforschen“, konstatieren Støkken Dahl und Brochmann. Übernommen haben das gewinnbringend Firmen wie Fun Factory und der Womanizer, der dank seiner patentierten „Pleasure Air Technology“ laut Melzer als „Porsche der Stimulationsvorrichtungen“ gefeiert wird. Das Anrecht auf Lust wird immer öffentlicher und selbstverständlicher. Und auch erforschter. In den Tenor von Støkken Dahl & Brochmann und Melzer stimmt auch die Schweizer Sexologin und Psychotherapeutin Dania Schiftan ein, indem sie sagt: „Orgasmus ist Übungssache.“ In ihrem Buch „Coming Soon“ führt sie in zehn Schritten zum Höhepunkt.
Dass dies möglich ist, unterstützt eine Theorie Melzers zu Fetischen: „Bei der Entstehung von Fetischen scheinen vermutlich Prägung und Konditionierung eine entscheidende Rolle zu spielen.“ Sie setzt den Pawlowschen Hund in diesen Kontext: In einem legendären Experiment konnte der russische Forscher Pawlow 1905 zeigen, dass Hunde, wenn man ihnen über einen Zeitraum Futter gemeinsam mit einem Glockenton anbietet, später schon allein beim Hören des Glockentons Speichelfluss bekommen. Ohne Trockenfutter oder „Pedal Pumping“-Fetisch könnte also auch der weibliche Orgasmus eine reine Konditionierung sein. Das Nichtwissen um den Orgasmus als Übungssache führt Schiftan auf zweierlei Gründe zurück: Der Begriff „Training“ irritiere wohl in „keinem anderen Zusammenhang so sehr wie bei Sex. Denn hier will niemand trainieren oder ,daran arbeiten’ müssen.“ Aber Grund Nummer eins ist die quasi jungfräuliche Erforschung des weiblichen Orgasmus an sich: „Man hat sich so lange nicht mit ihm befasst, weil es ihn rein biologisch betrachtet nicht braucht. Die Frau muss keinen Orgasmus haben, um schwanger zu werden. Ob sie kommt oder nicht, ist für die Fortpflanzung relativ egal.“
Gaspedale
Innerhalb der sexuellen Revolution unserer Zeit hat sich die Zielgruppe verschoben: „Waren es in den altmodischen Sexshops eher Frauen, die sich unwohl fühlten, so mag sich hier heute so mancher Mann etwas verloren oder gar überflüssig zwischen den Scharen von gut gelaunten Frauen und Mengen an Dildos vorkommen“, so Melzer. Natürlich spielt auch hier die Frage der Dosis und des Einsatzfeldes eine entscheidende Rolle. Doch der Punkt ist heute der: Solange gegen keine Gesetze verstoßen wird, ist jeder frei, autark zu entscheiden, was für ihn selbst und die Beziehung gut ist und was nicht. Und wie Melzer in den Raum wirft: „Warum Polo fahren, wenn der Porsche schon vor der Tür steht?“
Acht moderne Realitäten der Sexualität von Dr. Heike Melzer:
- Treue vollzieht einen Perspektivwechsel – weg vom „wir“, hin zum „du“ – und erfordert einen differenzierten Dialog in einer Partnerschaft. Dabei sollten Bedürfnisse und Ängste formuliert werden.
- Die Digitalisierung befreit die triebhafte Seite der Sexualität und spaltet sie immer mehr aus der Liebe ab. Beziehungen müssen sich positionieren.
- Sexuelle Superreize (Pornos, wechselnde käufliche oder unverbindliche Sexpartner und Hightech-Sex-Toys) lassen uns für natürliche sexuelle Reize unsensibel werden und sollten wie ein Genussmittel nur in Maßen konsumiert werden.
- Zwanghaftes sexuelles Verhalten ist von der WHO als psychische Diagnose anerkannt und breitet sich zunehmend aus. Sex- und Pornosucht sind ernstzunehmende Erkrankungen.
- Starke sexuelle Reize verlagern sich immer mehr in digitale Welten, die es uns möglich machen, immer stärker völlig anonym und autonom Lust ohne Limit zu genießen: Sex in 3D / 4D, Sex-Roboter mit künstlicher Intelligenz.
- In eine sexuelle Freiheit entlassen, müssen wir versuchen, uns von für die eigene Gesundheit und Beziehung krankmachenden Reizen zu distanzieren. Der Wunsch nach Neuheit, Abenteuer und Leidenschaft steht zunehmend im Konflikt mit dem Wunsch nach Nähe, Verbindlichkeit und Bindung.
- Sexuelle Funktionsstörungen (Potenzstörungen junger Männer, Verzögerung oder Hemmung des Orgasmus sowie Lustlosigkeit im partnerschaftlichen Sex) breiten sich pandemisch aus.
- Neue Freiheiten erfordern einen verantwortlichen Umgang mit diesen Freiheiten. Dabei sollte der Partner frühzeitig mit einbezogen werden.
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