Wissen/Gesundheit

ASMR: Was das große Kribbeln im Kopf auslöst

Es sind Alltagsgeräusche, die dabei helfen sollen, besser einschlafen oder Stress abbauen zu können. Mehrere Stunden dauern manche Videos, in denen die Protagonisten vor der Kamera gegen Glasvasen tippen, über ihren Samtpullover streichen oder sich die Hände eincremen. Die Geräusche und das Flüstern beschreiben manche Nutzer als beruhigend, stimulierend und als Kribbeln im Hinterkopf, andere wiederum finden die Geräusche einfach nur nervig. Warum unsere Wahrnehmung so unterschiedlich ist und was es mit ASMR (kurz für Autonomous Sensory Meridian Response) generell auf sich hat, erklärt Claus-Christian Carbon, der das Phänomen erforscht, das auch bereits den Einzug in die Werbebranche und den Journalismus geschafft hat.

Wofür steht ASMR Ihrer Definition nach?

Claus-Christian Carbon: Zuallererst merkt man, dass ASMR eine große Bandbreite von Phänomenen subsumiert. Das Verbindende aber ist: Es sind Videos, die stark auf akustischer Integration basieren, d. h. der Hintergrund wird zum Vordergrund – Kratz- und Schabgeräusche werden prononciert, gleichzeitig wird Gesprochenes zu einem amorphen Klangkörper transformiert. Der Begriff ASMR ist dabei wenig spezifisch, denn „autonom“ sind fast alle Reaktionen, „sensorisch“ ist fast alles, was später zu Reaktionen führt, nur „meridian“ beschreibt, dass es sehr außergewöhnlich starke Reaktionen sind. Genau hier scheiden sich aber die Geister: Die hauptsächlichen Reaktionen beim Konsumieren von ASMR-Videos münden in einer beruhigenden Wirkung, allerdings tatsächlich immer wieder pointiert versehen mit Kribbeln, Gänsehaut und einem eiskalten Schauer, den man vernimmt.

Was lösen die ASMR-Clips in uns aus?

Erst einmal kann man nicht von einer Reaktion sprechen. Wir haben in unserer Forschung erkennen können, dass nur ein Teil der Konsumenten typische Reaktionen zeigt, die anderen Personen wollen die Videos nicht anschauen, es ekelt sie oder sie finden es schlichtweg aversiv. Diejenigen, die allerdings solche Videos bewusst aufsuchen, finden tatsächlich Beruhigung darin, sie berichten davon, dass sie die Videos gerne und mit Gewinn schauen.

Öfters ist auch von einem Orgasmus im Gehirn die Rede. Wie sehen Sie diese Zuschreibung?

Diese Beschreibung trifft nur für einzelne Passagen der Videos zu, meist wenn eine neue Sequenz im Video eingeleitet wird: Beispielsweise wird ein künstlicher Kopf gezeigt und man hört, wie Fingernägel über die Oberfläche klackern und kratzen. Das erzeugt initial ein Kribbeln, dann wird die Sequenz aber stets wiederholend, oft auch sehr rhythmisch, dargeboten – das führt dann oft zu Beruhigung.

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Bei wem funktionieren die Clips besonders gut?

Dazu liegen noch zu wenige Daten vor, um das abschließend zu beantworten. Erst einmal müssen Sie eines mitbringen, um von ASMR überhaupt profitieren zu können: Sie müssen es an sich heranlassen und es überhaupt einmal für längere Zeit konsumieren, sonst kommen Sie gar nicht erst in den möglichen Zustand, weil ASMR maßgeblich davon lebt, dass man die stark aufreizenden Episoden überwindet und sich daran gewöhnt. Nur dann scheint es zu einer positiven Wirkung zu kommen.

Von welchen positiven Auswirkungen berichten die Probanden noch?

Wenn man affin dafür ist, kann es tatsächlich helfen, besser „herunterzukommen“ oder gar einzuschlafen. Dabei aber nicht vergessen: Der PC sollte sich unbedingt bald danach abschalten, denn die spezifischen Blaufrequenzspektren von Bildschirmen sind wenig hilfreich für einen gesunden und nachhaltigen Schlaf; siehe Einschlafen vor dem Fernseher!

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Wobei ist Vorsicht geboten?

Wie jede Konsumption, vor allem Konsumption von Materialien, die noch nicht tief erforscht sind, gilt: Kontrollieren Sie Ihren Konsum, erwägen Sie zudem andere, sehr stark erforschte und auf Wirksamkeit überprüfte Relaxationsverfahren, wie etwa autogenes Training, progressive Muskelentspannung oder schlichtweg Reduktion von Stressoren.

Inwiefern besteht Suchtgefahr?

Darüber können wir noch keine spezifische Aussage treffen. Klar ist nur, dass es viele Menschen sehr stark anzieht; wenn Sie merken, dass die Videos einen sehr großen Teil Ihres Alltags einnehmen, sollte man darüber nachdenken, das Konsumptionsverhalten zu überdenken.

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Nehmen die Trigger ab, wenn man sie oft „benutzt“?

Vermutlich nicht, eher im Gegenteil; denn erfahrene ASMR-ler werden vermutlich sehr viel schneller dann in einen Zustand der Beruhigung kommen, so wie das bei anderen Entspannungstechniken auch bekannt ist.

Äußerst beliebt sind auch Koch-Sendungen mit Stop-and-go-Elementen. Haben diese einen ähnlichen Effekt wie ASMR-Clips?

Vermutlich; noch klarer ist dies bei den Klassikern von Bob Ross, der im Fernsehen vor allem in der Nacht gezeigt wird, und stets Ölgemälde in sehr kurzer Zeit produziert und dabei charakteristische ASMR-Ingredienzen benutzt, etwa „whispering voice“, also eine flüsternde und dennoch gut hörbare Stimme, intensive Kratz- und Schabegeräusche des Pinsels und von Farbspachteln. Auch hier wird sehr viel repetiert, es entsteht eine große Intimität mit dem Zuschauer und man wird direkt angesprochen. Es beruhigt.

Inwieweit sind das Flüstern, die leisen Bewegungen aus dem Alltag wichtige Aspekte in einer immer rasanter werdenden Gesellschaft und so etwas wie ein kleiner Beitrag zur Selbstfürsorge?

Es schafft vor allem eine direkte Ansprache in einem scheinbar sehr intimen Rahmen. Das berührt die Zuschauer und scheint sie in eine sichere Umgebung zu transferieren. Dass wir einen Ausgleich zu unserer hektischen, kurzlebigen und stressreichen Lebensweise benötigen, ist einigermaßen klar, wenn man stetig wachsende Krankheitszahlen, die damit verbunden sind, analysiert. Ob jedoch ASMR eine Lösung ist, ist sehr zweifelhaft. Wir wissen, dass viel Bewegung, frische Luft, dass geistiger und physischer Ausgleich zu den Alltagsanforderungen wesentlich ist. ASMR kann dennoch, wohleingesetzt, eine zusätzliche Möglichkeit schaffen, dass man überhaupt einmal anfängt, seine Alltagspraktiken zu überdenken und zu verändern.

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