Leben

Shades Of Tortenbrösel

Großfamilientreffen bedeutet, auf engem Raum zwecks Tortenkonsums mit Menschen zusammenzukommen, die man kaum kennt, mit denen man aber per Du ist. Ich muss mich immer milde besaufen und die Brille abnehmen, um solche Anlässe lustig zu finden. (Schade, dass es beim Hören und Riechen nichts gibt, was man abnehmen kann.)

Einmal, beim 180. Geburtstag irgendeines Großonkels, setzte sich eine entfernte Tante ganz nah zu mir. Sie stellte mir die bei Familientreffen obligatorische Frage („Und – schreibst du immer noch für die Krone?“) und hielt mir dann, ohne von mir dazu aufgefordert worden zu sein, einen länglichen Vortrag über das Geheimnis einer dauerhaften Ehe. Das Geheimnis befand sich in folgendem Satz: „Ich habe immer zu ihm aufgesehen.“ Darin steckte tatsächlich etwas Geheimnisvolles, denn der Gatte der Tante unterragte sie um gut einen Kopf, er war ein dünnes Männlein mit hoher Stimme, gefüllt in einen schlecht sitzenden Trachtenanzug, im Gesicht hatte er einen Vollbart und Tortenbrösel.

An diese Geschichte musste ich denken, als ich unlängst in der Kolumne der hervorragenden Kollegin Gaby Kuhn las, 61 Prozent der Männer würden laut Umfragen gerne, nach dem Vorbild des atemberaubend schlecht geschriebenen Popoklatsch-Bestsellers „Fifty Shades of Grey“, den dominanten Part in einer Beziehung spielen. Die Entfernungstante und ihr dürres Männlein bei Spielchen, in denen Kabelbinder und Reitgerten eine Rolle spielen? Kein schönes Bild. Fifty Shades of Tortenbrösel?

Im Ernst: Kann es etwas Langweiligeres geben, als eine Beziehung, in der einer zum anderen aufschaut? Würde meine Freundin zu mir sagen „Darf ich bitte zu dir aufschauen?“, ich würde schreiend davonlaufen. Was kann schöner und außerdem praktischer sein als Augenhöhe?