REINHOLD MESSNER: Der Mann im Berg
Von Andreas Bovelino
Sechs Meter durch den Granit, ein Gang wie direkt aus dem Berg herausgeschnitten – dann eröffnet sich dem Besucher einer der spektakulärsten Wohnräume, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind. Luftig, hell, geradlinig und warm aus rotbraunem Sichtbeton, mit großzügigen Verglasungen, die den Blick auf gleich drei Terrassen freigeben, die durch einen Felsen einen spektakulären Blick auf das grüne Tal darunter bieten: Reinhold Messners Haus im Berg, nahe seiner Burg „Schloss Juval“ am Eingang des Schnalstales in Südtirol. „Bauen, ohne die Landschaft zu verändern – eine Idee, die ich schon ewig hatte, aber erst jetzt mit dem Architekten Werner Tscholl verwirklichen konnte“, sagt Reinhold Messner. Um hinzuzufügen: „Wir Südtiroler können ja nicht mehr viel bauen. Sonst ist von der erhabenen Landschaft bald nichts mehr übrig.“ Und tatsächlich ist das Haus weder vom Tal, noch von der Burg aus zu erkennen.
Reinhold Messner, rüstiger 73-Jähriger. Extrembergsteiger, Aktivist, Autor, Politiker, Mann der Rekorde, Filmemacher, Philosoph, Volksheld. Er lässt sich längst nicht mehr auf die Figur des waghalsigen Gipfelstürmers beschränken. Auch wenn sein Ruhm dadurch entstanden ist. Vor genau 40 Jahren bezwang er gemeinsam mit Peter Habeler als erster Mensch den Mount Everest ohne Zuhilfenahme von Sauerstoffflaschen. Ebenfalls als Erstem gelang ihm dieses Kunststück bei sämtlichen 14 Achttausendern. Was fühlt man, wenn man ganz oben ist, Freiheit?
„Dieses Gefühl von Glück und Freiheit gibt es nicht. Und auf dem Gipfel wartet nichts auf dich. Das ist ein übernommenes Bild, das von Außenstehenden geschaffen wurde, die nie auf einem Berg waren. Ich bin oben in keiner Weise frei. Mein Selbsterhaltungstrieb zwingt mich ja, wieder runterzugehen. Und diesen Teil des Bergsteigens kann man auch auf dem Gipfel nicht einfach ausblenden“, erklärt er, als wir beim Schlosswirt sitzen, nicht weit vom unsichtbaren Haus entfernt. In den alten Gutshöfen wird verkauft, was die Bauern der beiden Weiler Ober- und Unterortl ernten, über uns thront das Schloss Juval. 1983 kaufte Messner die völlig verfallene Anlage. Die Bauernhöfe verpachtete er, ins restaurierte Schloss zog er ein. Burgherr ist er also auch noch.
„Eher ein Contadino di montagna, ein Bergbauer“, sagt er und zwinkert. „Ich mag das Gefühl, dass wir hier alles, was wir brauchen, auch selbst produzieren können.“ Die Pächter zahlen in Naturalien. Wenn’s sein müsste, könnte Messner mit seiner gesamten Großfamilie – Brüder, Nichten und Neffen – hier von den Früchten seines Landes leben. Selbstbestimmtheit ist ihm wichtig.
Juval ist außerdem einer der sechs Standorte des „Messner Mountain Museums“. Seit 1995 ist die spätmittelalterliche Burg für Besucher geöffnet, außer in den Sommermonaten Juli und August, da gehört sie ausschließlich Reinhold Messner. Bei der Führung sehen wir sein eindrucksvolles Arbeitszimmer mit tausenden Büchern, den Rittersaal mit seinen Fresken von Till Riemenschneider und der langen Rittertafel. Und Artefakte aus aller Welt, die mit dem Mythos Berg zu tun haben.
„Ob das in die Dolomiten passt?“, murmelt ein skeptischer Besucher beim Anblick einer Statue Ganeshas, des hinduistischen Elefantengottes. Nach Ende der Führung ist die Skepsis vorbei, ein Teil fügt sich harmonisch in den anderen, die unterschiedlichen Welten vereinen sich in ihrer Ehrfurcht vor den Bergriesen – und dass der Nordtiroler Chor „Cantare-Mangiare“, der zufälligerweise seinen Jahresausflug nach Juval unternommen hat, im romantisch verfallenen Nordtrakt der Burg spontan ein Ständchen gibt, macht die Magie des Augenblicks perfekt.
„Die mythologische Bedeutung der Berge wurde in den Alpen durch das Christentum verdeckt. Das war Heidentum, das wollte man nicht. In Asien ist noch viel mehr da. Shiva lebt auf dem Gipfel des heiligen Berges, der tantrische Meister Milarepa meditiert am Fuße eines Berges. Aber früher gab es das in den Alpen natürlich auch“, erklärt Messner das Mythologische als verbindendes Element und fährt fort: „Vor den Göttern war die Natur das Göttliche. Und alle Götter, die wir im Lauf der Geschichte angebetet haben und noch anbeten, wurden von uns Menschen erfunden, davon bin ich überzeugt. Was aber nicht heißt, dass es nicht tatsächlich ein – wenn wir es so nennen wollen – göttliches Wesen gibt, eine ordnende Kraft über allem. In welcher Form wir es anbeten und ob es überhaupt angebetet werden muss, das ist eine andere Frage. Wie ein Mensch lebt, scheint mir entscheidender zu sein als wie er betet.“
Zu Ötzis Zeit war auf der flachen Wiese beim Messnerschen Felsenhaus das Winterquartier eines jungsteinzeitlichen Familien-Clans. „Und hier oben, wo die Burg ist, war der Kultplatz“, ist Messner überzeugt. Vielleicht war ja tatsächlich Ötzi selbst Messners Nachbar? „Seine letzten zehn Lebensjahre hatte er jedenfalls hier in der Gegend verbracht. Und ich hab Unterlagen dazu, die ich noch nicht hergebe …“, sagt Messner und die Lachfalten um seine Augen machen ein Tänzchen. Dass er Sinn für Humor hat, beweist auch eine Tafel an der Burgmauer, die den einzigen Absturz des Bergsteigers markiert. 1995 kam er nach einem Abendessen im Tal mit seiner damaligen Lebensgefährtin Sabine, einer Wiener Textildesignerin, zurück zur Burg und stand ohne Schlüssel vor verschlossenen Toren. Beim Versuch, über die Mauer zu klettern, rutschte er in der regnerischen Nacht von den nassen Steinen ab, stürzte und musste mit zerschmettertem Fersenbein ins Krankenhaus. Auf der Tafel steht: „Hier habe ich einen kapitalen Bock geschossen.“
Die Verletzung war freilich kein Spaß, sie war so schwerwiegend, dass es mit dem Extremsport vorerst vorbei war. Warum tut man sich das eigentlich überhaupt an – wenn auf dem Berg ohnehin weder Freiheit noch Glück noch Erleuchtung zu finden sind? „Der extreme Bergsteiger macht ja etwas völlig Irrationales. Wir gehen gegen den Selbsterhaltungstrieb in eine Welt hinein, in die der Mensch nicht gehört. Und das wird dir mit jedem Schritt, den du da hinein machst, deutlicher bewusst. Wir sind nicht geschickt, wir sind nicht schnell, wir sind nicht stark, wir haben kein dickes Fell – das alles haben wir auf unserem Weg zum Menschsein verloren. Dafür haben wir unseren Verstand gekriegt. Ohne den hätten wir mit unseren schwächlichen Körpern nicht überlebt. Und gegen diesen Instinkt, gegen diesen Selbsterhaltungstrieb gehen wir da hinein und schaffen es, auch wieder herauszukommen. Das ist wirklich eine Kunst. Wenn man nicht umkommen könnte, wie etwa in einer Kletterhalle, dann ist es nur ein Spiel. Aber mein Überleben ist eine Kunst. Und das Überleben gibt deinem Selbsterhaltungstrieb so eine Art Selbstmächtigkeit. Gegen alle Regeln habe ich es geschafft. Und dann will man schauen, ob man noch ein bissl mehr kann … Im Verlorensein, wenn das Leben auf der Waagschale liegt, erkennt man seinen Wert.“ Aber 99 Prozent der Menschen verspüren diesen Drang doch gar nicht? „Es gibt ja nicht nur verrückte Menschen, es gibt ja auch ein paar g’scheite.“ Messner lacht. Er ist gut gelaunt. Gemeinsam mit Tochter Magdalena, die das Messner Mountain Museum leitet, wird er am Nachmittag eine Besuchergruppe durch sein Reich führen. Der Kontakt macht ihm Freude – und auf das Geschaffene ist er wohl auch stolz. Zu Recht.
Kann einer wie Reinhold Messner sich zur Ruhe setzen? Sein Glück genießen? „Das Glück ist eine relative Sache. Es ist nur da, wenn du nicht mehr daran denkst. Es gibt nichts Schlimmeres als Buch-Ratgeber, die dir das Glück verheißen – absoluter Humbug! Das Glück passiert in dem Moment, wenn du in einer Person oder Sache aufgehst. Und nachher, wenn’s vorbei ist, weißt du, dass du glücklich warst. Wesentlich ist für mich, dass es nur ein gelingendes Leben geben kann, kein gelungenes. Weil das zu spät ist. In der Umsetzung von Ideen passiert gelingendes Leben. Und vermutlich ist das auch die Bestimmung des Menschen. Wenn er überhaupt eine Bestimmung hat.“ Das Glück liegt also nicht auf dem Gipfel, sondern auf dem Weg. In der Wand, im Überhang, im Schnee und im Eis ...
Stillstand kann es für Reinhold Messner demnach nicht geben. Seine nächsten Pläne? Gemeinsam mit Werner Tscholl, Italiens „Architekt des Jahres 2016“, wird er für die georgische Regierung ein Museum auf 2.400 Metern Seehöhe bauen. Und aufs Filmen will er sich konzentrieren. „Der Film ist gegenüber Buch oder Bühne die komplexeste Erzählweise. Das reizt mich“, erklärt er. Drei Filme hat er bereits gemacht, die er selbst als „Zwitter zwischen Spielfilm und Doku“ sieht. Als neues Projekt will er seinen ersten echten Spielfilm drehen. Die Handlung soll im frühen 20. Jahrhundert im Kaukasus spielen. „Mehr sag ich dazu noch nicht“, sagt Messner.
Hat er nie davor Angst, eine Idee nicht umsetzen zu können? Zu scheitern und vielleicht alles zu verlieren, wie es bei seinem ehrgeizigen Museumsprojekt ja durchaus möglich gewesen wäre? Allein sieben Millionen Euro hat Südtirol in das Hauptgebäude auf Schloss Sigmundskron bei Bozen investiert. Dazu kommen Messners Anbauten, die viele Kunst, Reliquien ... „Scheitern gehört dazu. Es muss nicht immer alles gelingen. Sigmundskron stand lange auf der Kippe, weil da von außen gegen mich interveniert wurde. Investiert hab ich erst als klar war, dass es gelingen würde. Aber wenn man erkennt, dass man etwas nicht mehr im Griff hat, muss man auch den Mut haben, die Segel zu streichen. Ich hab alle 14 Achttausender bestiegen – aber 13 Expeditionen auf dem Weg dorthin abgebrochen. Hätte ich da aufgrund meines persönlichen Ehrgeizes beschlossen, das Ganze durchzuknüppeln, säße ich heute nicht da und könnte mich mit Ihnen unterhalten ...“