Leben

Mein Weihnachten

Seit Wochen bekomme ich die „Daily News“ aus Bethlehem. Ich erfahre, wie schwierig es ist, dort ein Zimmer zu bekommen, weiß alles über die vielfältige Fauna der Umgebung und habe endlich eine ungefähre Ahnung, wie weit es wirklich weg ist: „Hunderttausendmillionen Jahre“.

Mein Sohn Karim spielt den Esel im Krippenspiel seines Kindergartens. „Der ist wichtig“, sagt er mit jener eindringlichen Ernsthaftigkeit, die nur ein Vierjähriger zustandebringen kann. „Der wartet im Stall auf die drei Weißen aus dem Morgenland.“ – „Die drei Weisen“, sag ich. Karim sieht mich so an, wie er mich immer ansieht, wenn ich einen offensichtlichen Blödsinn sag. Weil ich mir ja auch nicht merken kann, dass die Stadt, in die wir letztens einen Ausflug gemacht haben, „Gratislager“ heißt und nicht „Bratislava“.

Kinder leben in einer magischen Welt. Logische Abläufe, unsere erwachsene Nüchternheit, das strenge Vorgehen von „A“ nach „B“ hat wenig Bedeutung. Die Zeit selbst zerrinnt, schmilzt zu dem, was wirklich wichtig ist, dem „Jetzt“. Bethlehem, der Stern, der Stall, das Kind – es passiert für sie jeden Tag neu. Und vielleicht haben sie ja recht.

Ich hatte die große Ehre – und das Vergnügen – mit Karim und seinen Freunden Justus, Kendra, Vincent, Luis, Cosima, Raya, Ella, Konstantin und Julia die Weihnachtsgeschichte neu zu erleben. Eine außergewöhnliche Erfahrung. Denn wenn Kinder erzählen, geht’s um Wahrhaftigkeit.

- Konstantin, 5 Jahre.

„Der Josef und die Maria, die mussten nach Bethlehem“, sagt Justus. Sehr ernst. Justus wird im April fünf, wie seine Zwillingsschwester Kendra. „Und die Maria“, fährt er fort, „war soooo müde, dass sie auf einem Esel reiten musste.“ Justus schaut traurig. So wie Julia. Und Ella. Und alle anderen. „Aber der Esel war im Stall“, flüstert seine Schwester. Justus runzelt die Brauen – und beschließt, den Einwand großzügig zu ignorieren. „Und dann haben sie üüüüüberall angeklopft, aber niemand hat sie hereingelassen“, sagt er und schüttelt den Kopf. „Da waren alle Zimmer ausgebucht, im Hotel“, versucht Julia eine Erklärung zu finden. „Weißt du, Papa“, sagt mir Karim ins Ohr, „da war kein Maulwurf in Bethlehem.“ Jetzt bin ich dran, die Brauen zu runzeln. „Der Maulwurf, Papa“, sagt er, „nur der hat die Grille in sein Haus gelassen, wie sie im Winter so gefroren hat und Hunger gehabt hat. Der Hirschkäfer nicht, und die Maus auch nicht.“ – „Pscht“, sag ich, „das ist eine andere Geschichte.“ Und denk mir, dass er doch irgendwie recht hat.

Ella, 5 Jahre

„Und dann“, sagt Justus, der geduldig den Faden wieder aufnimmt, „und dann – sind sie auf die Wiese gegangen!“ – „Neiiiin“, sagt Kendra, „in den Stall.“ – „Sicher?“ – „Sicher.“ – „Im Stall, da waren auch die Tiere“, mischt sich Cosima ins Gespräch ein. Sie ist welterfahrene sieben, gemeinsam mit Vincent, der in die gleiche Klasse wie sie geht, die Erwachsenste der Truppe. „Ein Ochse und ein Esel“, sagt sie – „Ich bin der Esel“, kräht Karim. „Und Kühe“, sagt Luis, Vincents kleiner Bruder. „Nein, keine Kühe – aber Pferde“, sagt Vincent. „Also ein Ochse …“, versucht es Cosima noch einmal. „Kein Ochse, sondern Pferde!“, widerspricht Vincent vehement, und bekommt dafür von Karim sein Riesenstofftier Rudolph, das Rentier über den Kopf gezogen. Waren Rentiere anwesend? „Neiiiin!“, schon ist die Einigkeit wieder hergestellt, weil das war eine wirklich ganz andere Geschichte. Krokodile? Auch nicht, obwohl sich einer meiner Experten mit dem Gedanken durchaus anfreunden könnte.

"Der Jesus hatte keine Wiege wie andere Kinder. Auch keinen Kinderwagen. Der musste in der Krippe liegen, wo das Stroh für den Esel drin ist." - Kendra, 4 Jahre

Was ist dann passiert? „Dann kam der Jesus zur Welt.“ – „Das Christkind.“ – „Das war der Jesus, aber der war noch ein Kind damals.“ – „Nein, er war ein Baby.“ – „Ja eben, das Christkind!“ – „Und dann kamen die Hunde und die Katzen“, sagt Justus. „Der Justus ist ein Hund“, sagt Karim. „Ich bin der Weihnachtsstern“, freut sich Ella. „Und ich bin eine Weise“, sagt Kendra. „Weißt du Papa, weise, das heißt klug“, erklärt mir Karim rasch, bevor ich einen Blödsinn sag. „Ja, und Konstantin ist auch ein Weiser“, erklärt Ella, „Moritz ist der Josef, Emilia ist …“ Sie stoppt mitten in der Besetzungsliste, weil Julia gar so traurig schaut. In ihrem Kindergarten gibt’s kein Krippenspiel. „Ich will auch wer sein“, sagt sie. „Dann spielst du mit uns“, sagt Ella, „da kannst du alles sein. Auch ein Engel, wenn du willst.“ Julia strahlt. Also wie war das, der Jesus kam im Stall zur Welt? „Ja“, sagt Cosima, „und der hatte kein Bett, wie andere Kinder.“ – „Und keine Wiege“, sagt Kendra mit einem tiefen Seufzen, „und keinen Kinderwagen – der musste in der Krippe liegen, wo das Stroh für den Esel ist.“ – „Ich bin der Esel“, sagt Karim. „Und dann sind alle gekommen. Die Tiere und die Hirten und die Schafe“, sagt Julia. – „Und die Elefanten“, sagt Justus, was ihm zwar ein, zwei verwunderte Blicke einbringt, aber dann doch stillschweigend als durchaus im Bereich des Möglichen eingestuft wird. „Ja, und der Engel hat gesagt: ,Fürchtet euch nicht, denn heute wird ein König geboren, der heißt Jesus“, sagen Konstantin und Karim dramatisch zweistimmig. „Und der Stern hat ihnen gezeigt, wo“, sagt Cosima. „Ich glaub, das war ein Komet“, wirft Vincent ein, aber auf technische Spitzfindigkeiten kann von seinen Kollegen nicht weiter eingegangen werden, denn: „Dann sind die heiligen drei Könige gekommen!“, ruft Raya. – „Das waren die Weisen aus dem Morgenland“, erklärt Julia. „Heißt das so, weil dort immer morgen ist?“, sinniert Konstantin. „Ja, so wie bei uns heute“, pflichtet Karim seinem Freund bei. „Ich bin eine Weise“, freut sich Kendra. „Und die Weisen brachten Geschenke mit“, sagt Ella. „Drei Geschenke“, schränkt Vincent ein. „Gold“, sagt Karim. „Weihrauch, Myrrhe“, komplettieren die anderen. „Und Edelsteine“, sagt Justus, „und ... Schafwolle!“ – „Aber ein König hat auch eine Überraschung gebracht“, sagt Raya.Jedenfalls – und da sind sich wirklich alle einig, ist die Geschichte dann doch noch gut ausgegangen. Auch wenn es in Wirklichkeit erst der Anfang war. Aber um das zu verstehen, haben die Kinder noch Zeit. Vielleicht ja, bis morgen heute ist...

Jetzt zählt erst einmal eines: ihre Freude auf Weihnachten.

- Justus, 4 Jahre.