Lebensfreude am Kanal
Von Christian Seiler
Ich gehe dem
Donaukanal entlang, dort blühen an den Mauern bereits alle Farben des Sommers. Talentierte Sprayer haben diese früher so stiefmütterlich behandelte Stadtlandschaft in eine Freiluftgalerie verwandelt. Ich weiß nicht, wie viele Schichten Farbe sich schon auf den Mauern und Brückenfundamenten befinden, aber ich sehe, dass permanent neue, attraktive Kunstwerke entstehen. Außerdem bin ich froh, dass die Künstler nicht darauf achten müssen, ob eh nicht die Polizei kommt und sie wegen Sachbeschädigung drankriegen will. Sprayen ist hier erlaubt. Wien ist auch für Sprayer eine lebenswerte Stadt.
Überhaupt ist die Stadtlandschaft am Donaukanal ein Seismograf für unsere Lebensfreude. Kaum ist es ein, zwei Stunden warm, sitzen hier schon die ersten Typen in kurzärmeligen Leiberln und zelebrieren den Sommer, auch wenn er nur zwischen zwei Regenwolken hervorblinzelt.
Weil die Sonne aber inzwischen schon ziemlich selbstbewusst ist, schreite ich eine regelrechte Parade der Sommerzelebrationen ab, selbstverständlich in Gesellschaft unzähliger Jogger, die sich für die Laufsaison in Form bringen müssen und dabei vergessen haben, dass sie das gerade in den engen Trikots tun, die sie letztes Jahr gekauft haben, als sie in Form waren.
Ich bin von der Franzensbrücke hinunter zum Wasser gestiegen, habe die Hafenkneipe rechts liegen lassen, die Aspernbrücke unterquert, ein paar hier platzierte Skulpturen betrachtet und den Blick auf die Charaktergebäude des Ersten Bezirks genossen, der sich jenseits des Wassers formiert, Urania, Motto am Fluss, Stephansdom. Drüben am Salzgries lag im 13. Jahrhundert das Salz, das aus Gmunden und Hallein nach Wien gebracht wurde. Am Ufer der Rossau lagerten Holz und Granit, und bei der Augartenbrücke befand sich die Anlegestelle der Fischzillen.
Heute ist der Donaukanal einzig und allein meinem Vergnügen gewidmet, anderen Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich vergnügen. Die Sportler, siehe oben. Die Müßiggänger, die sich auf die Kunst verstehen, beim Gehen aus der Bierdose zu trinken, ohne einen Tropfen zu verschütten. Die Liegestuhlbenützer, die ich vor allem dafür bewundere, dass sie immer wissen, wann sie bei der „Adria“ oder dem „Tel Aviv-Strand“ ankommen müssen, um noch zwei oder drei freie Sitzgelegenheiten nebeneinander vorzufinden. Die Sprayer. Den Typen, der eine kleine Anlage aufgestellt hat, laut Musik spielt und das eine „Kundgebung für den Weltfrieden“ nennt. Die urbanen Gärtner. Die Schönwetterwiener, die schon jetzt, im April, so braun im Gesicht sind wie wir nach dem Sommerurlaub in Caorle. Die Versunkenen, die körperlich auf ihrer Parkbank sitzen, mit dem Geist aber tief im Geschehen des Romans, den sie gerade lesen: Ich muss dann augenblicklich wissen, welches Buch sie so fesselt, das befähigt mich zu unansehnlichen Verrenkungen, nur um den Umschlag sehen zu können.
Genau: Ich bin der, der sich vor Euch auf den Boden fallen ließ, nur um zu checken, dass es ein Meyerhoff war, der Euch zum Lachen brachte. Gute Wahl.
christian.seiler@kurier.at