Hier will doch jeder wohnen!
Von Christian Seiler
Ich gehe den schönen Weg entlang, der etwas umständlich „An der Unteren Alten Donau“ heißt, und staune. Ich staune, weil ich den Weg gerade mit den Augen eines Münchners sehe, der mich begleitet und mich bereits zum wiederholten Mal fragt, ob dieser Uferstreifen, den wir mit langen Schritten abschreiten, nicht demnächst versilbert wird, was heißt versilbert, vergoldet, platinisiert?
Weil in München, sagt mein Bekannter und holt tief Luft, würden hier längst die Reichen und die Schönen wohnen. Schau dich um, sagt er, beschreibt mit seinem rechten Arm einen Halbkreis und weist mich auf das dunkelblau glänzende Wasser hin, auf die Skyline rund um UNO-City, Harry-Seidler-Hochhaus und DC-Tower, deutet mit dem Zeigefinger auf die Garnitur der U1, die gerade Richtung Innenstadt zwitschert, wo sie acht Minuten später ankommen wird.
Hier will doch jeder wohnen, sagt mein Freund. Dann reibt er seinen Daumen an Zeige- und Mittelfinger, was bekanntlich die international verständliche Geste für Geld, Zaster, Deutschmark ist, und schaut mich mit großen Augen an. Ohne dass er sie ausgesprochen hätte, schwebt seine Frage wie eine dunkle Wolke über der Unteren Alten Donau: Wieso stehen hier keine Villen? Wieso befindet sich hier stattdessen die Kleingartensiedlung Neu-Brasilien?
Wenn ich erkläre, dass in Wien sehr viel schönes Land ganz selbstverständlich den Wienern gehört, zitiere ich gern den ehemaligen Direktor des Architekturzentrums Wien,
Dietmar Steiner, einen der vertrauenswürdigsten Intellektuellen der Stadt.
„Das eigentliche Weltkulturerbe Wiens“, sagt Steiner, „ist der soziale Wohnbau.“
Und bevor ich jetzt ganz weit aushole und über die Zusammenhänge von leistbarem Wohnraum und der selbstverständlichen Benützung von Wiens schönsten Rückzugsgebieten referiere, nur so viel: Ich liebe es, mit welchem Selbstbewusstsein die Menschen aus den Kleingartensiedlungen, Kabanen und Vereinsheimen, die Lederhäute, Wasserathleten, Arbeiterstrandbadsaisonkartenbesitzer, Straßenbahner und Kieberer samt Freunden und Kollegenschaft diesen gesegneten Winkel bevölkern. Wie sie ihn bewohnen. Wie sie ihn als ihren Teil der Stadt verstehen, als ihr Vorzimmer, das sie natürlich, klar und willkommen, mit mir, dem Spaziergänger, teilen, und wenn es sein muss auch mit meinem Freund, dem Münchner.
Wir gehen die lange Allee entlang, passieren das Strandbeisl „Selbstverständlich“, wechseln bei der Donaustadtbrücke auf die anderen Seite der Alten Donau und marschieren über den Dampfschiffhaufen, dessen spektakulärstes Bauwerk die aus Holz gebaute Polizeisportanlage ist, zurück Richtung U-Bahn-Station „Alte Donau“.
Ich liebe die Kultur, die diese Ecke prägt. Niemand, der nicht in Wien groß geworden ist, kann sie verstehen, und wäre sie nicht längst vorhanden, könnte sie auch niemand mehr erfinden. Die Alte Donau – halt: Habe ich von irgendwo das unverkennbare Lachen Polly Adlers gehört? – ist einer der demokratischen Orte Wiens. Hier wird nichts versilbert, sage ich dem Münchner. Hier nicht.