Christian Seilers Gehen: Smart zum Vorgartenmarkt
Von Christian Seiler
Das Gehen ist ein Privileg der Unentschlossenen. Du setzt einen Schritt vor den anderen, und wenn dir beim Ausschreiten einfällt, dass dich der übernächste Schritt in eine andere Richtung führen soll, dann folgst du diesem Impuls, ohne darüber nachzudenken. Unvorstellbar, in einem Auto so schnell eine Idee in die Tat umzusetzen, sozusagen Vollbremsung und ab in die Botanik. Es gibt zahllose Orte, die ich nur aus dem fahrenden Auto kenne und die mich interessieren würden. Aber den Aufwand, an diese Orte zurückzukehren, das Auto sicher zu parken und zu überprüfen, ob das scheinbar Interessante tatsächlich interessant ist, treibe ich nie.
Ich wollte eigentlich die Prater Hauptallee abschreiten, vom Lusthaus zum Praterstern, aber zwischendurch fiel mir etwas anderes ein, und knapp hinter der Stadionallee stadteinwärts schlug ich mich rechts in die Büsche. Immer wieder erstaunlich, wie schnell du die bunte Freizeitwelle, die die Hauptallee flutet, hinter dir lässt, wenn du nur ein paar Meter abweichst. Ich folgte dem Weg, der zuerst zur Trabrennbahn und von dort auf den Campus der neuen Wirtschaftsuniversität führt, diesem Winterwonderland der Architektur.
Dichtes, grünes Gebüsch, durch das kaum die Sonnenstrahlen dringen, und plötzlich, als öffnest du einen Vorhang, die ambitionierten Neubauten des sogenannten Viertel Zwei, die den Kurven der Trabrennbahn gefährlich nahe gerückt sind. Ich gehe die Trabrennstraße entlang, rechts der Blick über die klassische, ein bisschen abgerockte Tribüne, links die Neubauten, bei deren Anblick ich mich frage, ob ich wohl gern in einem Wohnzylinder wohnen würde, wo sich die Parteien verschiedener Häuser von Balkon zu Balkon gegenseitig Feuer für ihre Zigaretten geben können.
Ich gehe vorbei an ein paar Ställen, die in der Gesellschaft neuer Stahlglasbauten – OMV, Unilever, Schenker-Zentrale – seltsam anachronistisch, aber auch tröstlich wirken. In welcher Trabrennstraße wohnen denn sonst tatsächlich noch Pferde? Ich denke über die Smart Homes nach, die hier entstanden sind, und wie es sich wohl anfühlt, in einem dieser schlauen Häuser zu leben, die selbstständig die Rollos runterlassen, den Müll sortieren und mir ein Brot schmieren, wenn ich eines brauche.
Das bringt meine Beine auf eine Idee. Weil sie smart sind und von hoch entwickelten Sensoren darauf hingewiesen werden, dass mich ein nagendes Hungergefühl quält, schlagen sie jetzt den Weg zur Vorgartenstraße ein, um dieser schnurgerade zu folgen, vorbei an Gemeindebauten, Tierarztpraxen, einer abgefuckten Kaserne, bis zu der Batterie achtstöckiger Häuser linker Hand, hinter denen sich der Vorgartenmarkt auffaltet. Im letzten dieser Häuser ist einer meiner ältesten Freunde aufgewachsen, dem wahrscheinlich der Feitel in der Tasche aufgeht, wenn er zuschaut, wie auf seinem Markt plötzlich Biobrot verkauft wird – und ein wunderbarer Ramenshop Besitz von einem Marktstandl ergriffen hat. Dort esse ich nämlich jetzt meine Nudelsuppe – und lobe den Fortschritt und meine Unentschlossenheit.
christian.seiler@kurier.at
freizeit für daheim
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