Christian Seilers Gehen: Interessante Zeiten in Venedig
Von Christian Seiler
Die Giardini liegen ein Stück weit entfernt vom wildesten Trubel Venedigs, der gleichzeitig der Normalzustand rund um San Marco und den Dogenpalast ist, Touristen, Verkäufer, Tauben und manchmal ein Einheimischer, der aus unerfindlichen Gründen den Markusplatz überqueren muss, kopfschüttelnd, irritiert und mit dem festen Vorsatz, es nie wieder zu tun – ich kenne diesen Gemütszustand gut, wenn mich irgendein Weg durch die Innenstadt Wiens in das Inferno rund um Hofburg und Kohlmarkt gespült hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die Giardini beherbergen Venedigs Biennale, diese legendäre Kunstausstellung, die sich längst der Stadt als Ganzes bemächtigt hat mit Ausläufern, Dependancen und Werbeflächen. Diese zieren die Fassaden von Häusern, Palazzi und selbst von Vaporetti, den ständig überfüllten Passagierbooten. Als ich mit dem Boot in den Giardini ankomme, frage ich mich, wie ich das Motto dieser Biennale wohl verstehen soll. Es lautet: „May You Live In Interesting Times“ – mögt Ihr in interessanten Zeiten leben. Als ob wir da eine Wahl hätten!
Ich gehe vom Eingang zum Hauptpavillon der Biennale. Der Schriftzug auf dem zentralen Gebäude wird von einem permanenten Sprühnebel eingehüllt. Bevor ich in die riesige Ausstellungswelt eintauche, gehe ich eine Runde durch die Giardini, um die vertrauten Länderpavillons zu besuchen, die seit vielen Jahrzehnten von ihren jeweiligen nationalen Kuratoren bespielt werden.
Ich gehe vorbei am belgischen Pavillon, dem ersten Länderpavillon, der in den Giardini entstanden ist, biege links ab und gehe leicht bergauf. Rechts der elegante Schweizer Pavillon, der angeberische russische, der filigrane japanische, der in den Fünfzigerjahren entstand, als ein Spender anonym das Geld dafür zur Verfügung stellte. Gegenüber die flachen Gebäude des dänischen Pavillons und das Haus der nordischen Länder, das für mich fast das schönste Gebäude des Geländes ist. Geplant vom Pritzker-Preisträger Sverre Fehn schwebt der nordisch helle Ausstellungsraum scheinbar über dem Boden, überdacht von einer transparenten Decke, durch die drei hohe Bäume ragen. Fehn wollte mit seiner Architektur „nordisches Licht unter venezianischen Bedingungen“ schaffen, und vielleicht ist das die Verheißung dieses Orts.
Hinter dem deutschen Pavillon befindet sich das schönste Café des Biennale-Geländes. Mit einem Espresso setze ich mich auf die Bank, von der aus ich die Lagune überblicken kann, der Lido, die Inseln, die so nahe der Stadt und so fern unserer Wahrnehmung sind.
Dann gehe ich weiter über den Kanal, der die Giardini durchzieht, und statte dem österreichischen Pavillon einen Besuch ab, der in unbestechlicher Eleganz das Ausstellungsgelände abschließt. Josef Hoffmann und Robert Kramreiter haben ihn in den Dreißigerjahren geplant, und gerade wirft eine überdimensionale Inschrift ihren Schatten auf die weiße Fassade des Baus: „Amo ergo sum“. Ich liebe, also bin ich.
Das nehme ich gern mit, als Ermunterung für dieses Leben in interessanten Zeiten.
christian.seiler@kurier.at