Leben/Gehen

Christian Seilers Gehen: Die Baulücke

Die Stadt ist nicht allein, was sie ist. Sie ist ständige Veränderung, die Summe von Entwicklung und verpassten Möglichkeiten, von Stagnation und Aufbrüchen. Als ich vom Botanischen Garten hinüber in den Belvederegarten gehe und mich vor dem Schloss zwischen Ladungen von Touristen Richtung Prinz-Eugen-Straße schiebe, betrachte ich Wiens centro storico einen Augenblick aus der berühmten Canaletto-Perspektive: Im ersten Bezirk hocken die Baukräne wie Hähne, die auf ihre Hühner warten, und die Hochhäuser drücken sich vom Donaukanal aus prominent ins Bild.
Mir fällt ein, dass unweit von hier, im Park, der zum Palais Schwarzenberg gehört, ein riesiger Biergarten geplant ist. Ich zweifle. Der Verkehrsforscher Hermann Knoflacher hat plausibel erklärt, dass eine bessere Verkehrsinfrastruktur für mehr Verkehr sorgt, und ich glaube, die Analogie ist zulässig: Ein großer Biergarten sorgt für mehr Biertrinker und ein noch größerer für noch mehr. So sehr ich mich darüber freue, dass Wien wächst, prosperiert und schon wieder vom „Economist“ zur lebenswertesten Stadt der Welt gewählt wurde: Ich möchte, dass Wien auch seine Ruhezonen, Schattenbuchten und hässlichen Entlein pflegt und entwickelt – indem es sie eben nicht entwickelt. Oder wenigstens nicht alle.
Ich gehe weiter Richtung Argentinierstraße. An der Ecke Mommsengasse/Karolinengasse klafft eine Baulücke. Die Konturen des abgerissenen Hauses sind an den Feuermauern der angrenzenden Gebäude abzulesen. Hier befand sich im Erdgeschoss das Gasthaus Sperl, darüber nur zwei Stöcke, keine denkwürdige Fassade, ein altes Biedermeierhaus. Der Abriss macht den Hinterhof sichtbar, wo, inzwischen halb zerstört, eine Art Salettl zum Vorschein kommt, große, elegante Türbögen, darüber eine hübsche Bordüre, darauf sitzt schon der Dachstuhl, beschädigt, halb abgedeckt, mit Baustellentüchern notdürftig geschützt. Auch ein Baum ist stehengeblieben, dessen Krone wohl viele Jahre nach Luft geschnappt hat und sich aus Mangel an Alternativen nach oben orientierte. Jetzt, freistehend, hat der Baum eine etwas patscherte Form.
Ich bleibe stehen. Betrachte die Baustelle, sichte die Spuren des langen Gestern und habe keine Vorstellung, was das Morgen bringt, geplant ist angeblich ein fünfstöckiges Wohnhaus.
Ich will nicht klagen, Wien braucht Wohnungen, aber trotzdem berührt mich der Ort hinter dem offenen Bauzaun. Mir gefällt die Vorläufigkeit, die Verletzlichkeit der Situation, die Poesie, die ihr innewohnt: Noch scheint alles möglich zu sein. Noch hat die Vergangenheit das Sagen. Noch schwirren Ideen herum, wie der Baum die Luft zum Atmen behalten kann und das Salettl sich zu einem Hinterhofschmuckstück verwandelt. Noch ist es möglich, auch wenn schon längst an einem Schreibtisch etwas ganz anderes geplant wurde.
Kaum gehe ich weiter, springt mir das angerostete, nutzlose, wunderschöne Geschäftsportal des Maßschneiders Peter Schett ins Auge, ein paar Häuser weiter. Was hier war? Was hier wird? Die Stadt ist das Nebeneinander genau dieser Möglichkeiten.

christian.seiler@kurier.at

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