Leben

Tourette-Begegnungen

Sauschädeln, depperte, Hurenviecher, bloßhaperte...“ Eruptionen von Fluchsalven mitten am Tag. Der U-Bahn-Mitfahrer dürfte an einem fortgeschrittenem Tourette-Syndrom leiden. Eine Frau versucht Tourette-Karli zu beruhigen: „Schauen’s, das ist doch sicher alles nicht so schlimm. Sie müssen das Leben einfach nur positiv sehen.“ Mehr hat sie nicht gebraucht. „Halt’ den Suppenschlitz, Ang’schütte! Auf dein positives Leben scheiß’ ich einen Krapfen!” Ich bin ein bisschen bei ihm in der Causa. Dieses ständige Positiv-Denken-schlechte-Energien-Abbauen-neurotische- -Loslassen-lernen- Gelabber kann einen richtig aggressiv machen. Ich habe eine Dalai-Lama-Unverträglichkeit und eine Paolo Coelho-Allergie. Manchmal braucht es wirklich nur ganz wenig, um richtig unzufrieden zu sein. Ein kleines Glasstück zum Beispiel, das gerade in meiner Sohle steckt. Ich hatte aus Wut eine Lampe zertrümmert und nichtsorgfältig genug aufgekehrt. Ich hüpfe auf einem Bein die Taborstrasse hinauf zum nächsten Arzt. Der Tourette-Mann verfolgt mich: „Was wird denn des, wenn’s fertig ist, Depperte? Bist du a von wo?” - „ Na, was wohl? Ich habe einen Storchen-Komplex, Hirnamputierter! Und wenn du noch Fragen hast, red’ mir’s in a Sackl und stell mir’s vor die Tür.“ Der Tourette-Mann kriegt es mit der Angst zu tun. Ich hüpfe in das vollgepackte Wartezimmer. „Sie müssen mit zwei Stunden rechnen,“ erklärt mir die Sprechstundenhilfe, „nur Akutfälle kommen früher dran.“ – „Und was sind für Sie Akutfälle - Axt im Kopf, Bauchstich?” Die Sprechstundenhilfe revidiert ihre Definition von Akutfällen angesichts meines flackernden Blicks. Nach einer Not-OP (ohne Vereisung) humple ich aus dem Etablissement und bin der glücklichste Mensch in der Leopoldstadt. Umarmungsbereit für die Welt, inklusive Paolo Coelho. Mit Hilfe eines kleinen Glasstücks!Verrückt, oder?