Leben

Ein Dorf als Weltstadt

Viele Menschen meinen, sie würden keinen Belgier kennen. Ein Irrtum. Nein, nicht Chansonnier Jacques Brel, der in seinem Lied „Les Flamandes“ die Eigenheiten der Flamen beschrieben hat. Den kennt man ohnehin. Es gibt noch viel berühmtere Belgier. Sie haben eine eigentümlich-blaue Hautfarbe, sind dabei aber recht gesund und munter. Sie tragen weiße Mützen. Eigentlich heißen sie gar nicht Schlümpfe, sondern „Schtroumpfs“ und entstammen der Feder des belgischen Zeichners Peyo. Und dann gibt’s noch den furchtlosen Cowboy Lucky Luke, der schneller zieht als sein Schatten, im Wilden Westen für Recht und Ordnung sorgt und der es immer wieder versteht, die dummen Dalton-Brüder auszutricksen. Und den Reporter Tim, der mit seinem Hund Struppi Abenteuer in aller Welt besteht.

Wer an Brüssel denkt, denkt an die EU, Bürokraten und allenfalls noch an die pittoreske Altstadt, üppiges Essen und Schokolade. Dabei ist Brüssel vor allem die Hauptstadt der Comics. Die bunten Figuren begegnen einem auf Schritt und Tritt. Sie zieren Feuermauern – mehr als 40 Wände sind es mittlerweile, Tendenz steigend, und zahlreiche U-Bahn-Stationen. Den Werken der Bédéistes, der Comic-Zeichner, ist sogar ein eigenes Museum gewidmet, das in einem prächtigen Jugendstilgebäude, dem ehemaligen Warenhaus des Stoffhändlers Charles Waucquez in der Zandstraat, untergebracht ist. Sprechblasen statt Stoffballen.

Dieses Haus ist eines der schönsten Werke von Victor Horta, dem Meisterarchitekten des Jugendstils, der die geschwungenen Linien zum Leitmotiv Brüssels gemacht und sich auch gleich sein eigenes Museum geschaffen hat. Es ist sein ehemaliges Haus und Atelier im Stadtteil St. Gilles, das er 1901 fertiggestellt hat und dessen Inneneinrichtung – Glasfenster, Mosaike, Möbel – vollständig erhalten sind. Ein Gesamtkunstwerk und eines von 170 Bauwerken im Stil der Art Nouveau, die am Ende des 19. Jahrhunderts, als Brüssel die reichste Stadt Europas war, entstanden sind. Horta hat auch den Brüsseler Zentralbahnhof, das Palais des Beaux Arts und mehrere Wohnhäuser geschaffen – vier davon sind heute UNESCO-Weltkulturerbe.

Es ist das magische Fünfeck, das die meisten Brüssel-Besucher anzieht, auch solche, die im Ausland leben und hier und da in ihre belgische Heimat zurückkehren. Einer von ihnen ist Franky van Avermaet, der seit acht Jahren in Graz lebt und dort die Niederlassung des belgischen Chocolatiers De Naeyer betreibt. Pentagon sagen die Einheimischen zu der von fünf mehrspurigen Boulevards umschlossenen Altstadt, den Alten Hafen, Marolles, das Arbeiterviertel und die noble Oberstadt. Das Herz Brüssels, wo es Weltstadt und immer noch ein bisschen Dorf ist. „Wann immer ich nach Brüssel komme, muss ich auf die Grand-Place. Anders geht es nicht“, sagt De Avermaet. Dann sitzt er im Café Le Roy d’Espagne und wundert sich nicht mehr, dass das neugotische Rathaus, das die ganze Südwestseite des Platzes einnimmt, wie eine Kopie des Wiener Rathauses aussieht.

Und auch die Fressmeile, die Rue des Bouchers, wörtlich die Straße der Fleischhauer, in der sich ein Restaurant an das andere reiht, zieht den Auslandsbelgier ebenso magisch an wie die meisten Touristen. „Es stört mich nicht, dass man dort kaum noch normale Belgier trifft, sondern viel mehr Ausländer. Man fühlt sich wie im Süden. “Beinahe ins Bobo-Wien zwischen Naschmarkt und Mariahilf versetzt fühlt man sich in Marolles. Das ehemalige Arbeiterviertel ist im ständigen Wandel: Nur den großen Flohmarkt auf der Place du Jeu de Balle gibt es nach wie vor. In die Zinskasernen zogen anstelle der alteingesessenen Marolliens Marokkaner, Tunesier und Schwarzafrikaner ein. Und mittlerweile entstehen hier Beisln, angesagte Läden und Antiquitätengeschäfte und locken zahlungskräftigere Kundschaft an. Es ist hier zwar nicht alles so teuer wie in den Galéries Royales St-Hubert, aber es reicht allemal.Da gibt es ein anderes Wahrzeichen der Stadt wesentlich billiger. Manneken Pis, der Weltstar aus Brüssel, der je nach Anlass keines oder eines seiner 800 Kostüme – von der Tracht bis zum Anzug – trägt. Der kleine Wasserspender lässt sich auch von Zuschauermassen nicht daran hindern, sein Geschäft zu verrichten. Ist zwar ein Klischee, gehört aber irgendwie dazu.