Chronik/Wien

"Wir bleiben auch ein Jahr hier"

Die Redezeit war begrenzt. Jeder am Pult in der Wiener Votivkirche durfte fünf Minuten sprechen. In dem Gotteshaus improvisierten gestern jene rund 40 Flüchtlinge, die seit 36 Tagen in der unbeheizten Kirche ausharren, eine Pressekonferenz. „Wir wollen eine Lösung“, hieß es.

Die ist nicht in Sicht. Am Mittwochabend gaben die Flüchtlinge bekannt, ihren seit 31 Tagen andauernden Hungerstreik zu unterbrechen. Dies sei „ein wichtiger Schritt zur Deeskalation“, erklärte Klaus Schwertner, Sprecher der Caritas. Jetzt sei die Politik am Zug.

Deren zuständige Vertreterin, ÖVP-Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, spielte aber gestern den Ball zurück. „Ein weiteres Gespräch“, wie es sich die Asylwerber wünschen, werde es „nicht geben“, konkretisierte ein Ministeriumssprecher. Überdies wischte die Ministerin den Vorstoß von SPÖ-Klubchef Josef Cap, der einen leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylwerber forderte, vom Tisch.

Im Ministerium erneuerte man das bestehende Angebot: Es gebe Quartiere der Stadt, des Ministeriums und der Caritas, in die die Flüchtlinge übersiedeln können. Außerdem bietet die Behörde an, für jeden Asylwerber die rechtliche Perspektive abzuklären. Es könne aus rein rechtlichen Gründen keine kollektive, sondern nur eine individuelle Lösung geben. „Die Flüchtlinge sind in rechtlichen Belangen einer massiven Desinformation ausgesetzt“, erklärt der Sprecher.

Die Asylwerber bekräftigten gestern ihre Forderungen: Arbeitsmarktzugang, rasche, qualitative Asylverfahren, bessere Quartiere. NGOs wie die Caritas, die Diakonie oder die Asylkoordination fühlen sich durch den Protest in ihrer Kritik am Asylsystem bestätigt und unterstützen die Anliegen.

Die Punkte, heißt es im Innenministerium, seien erfüllt. „Gibt es Mängel“, so sollten diese „individuell aufgezeigt werden“. Dann könne man auch handeln.

Experte: „Lösbar“

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Wie lange wollen die Flüchtlinge noch ausharren? Die kollektive Antwort lautet: „Wir bleiben ein Jahr hier. Wenn es nötig ist, auch zehn Jahre.“ Caritas-Sprecher Klaus Schwertner mahnte gestern erneut: „Die Politik soll nicht die Augen vor der Realität verschließen.“ Genau das kritisiert Fremdenrechtsexperte Georg Bürstmayr. „Es besteht ein konsistenter Unwille in der Politik, an den Miseren im Asylwesen etwas zu ändern.“ Und er sagt: „Mit gutem Willen lässt sich, ohne ein Gesetz beugen zu müssen, die zentrale Aufenthaltsproblematik für 90 Prozent der Menschen in der Votivkirche lösen – und zwar in 14 Tagen bis zu einem Monat.“

Zwar sei der rechtliche Status der Flüchtlinge im Gotteshaus unterschiedlich. Die Behörde könnte an drei Hebeln ansetzen: So könnte das Bundesasylamt von sich aus die Fälle neu aufrollen. Jene Pakistani, die einen negativen Bescheid haben und von ihrem Heimatland nicht zurückgenommen werden, könnten eine „Duldung“ erhalten. Letzteres betrifft ein Drittel der „Kirchenflüchtlinge“. Und: Die Behörde müsse Flüchtlinge nicht nach dem Dublin-II-Verfahren in das Ersteinreiseland abschieben, sondern könnte das Verfahren übernehmen. Anwalt Andreas Lepschi hält das Angebot des Ministeriums, eine rechtliche Prüfung vorzunehmen, für „nicht gescheit“. Es brauche eine „unabhängige Betrachtung“.

Die Grünen warfen Mikl-Leitner gestern „Gesprächsverweigerung“ vor, die FPÖ forderte, den „Votivkirchen-Suppenstreik komplett zu beenden“. Findet die Politik binnen neun Tagen keine Lösung, dann wollen die Flüchtlinge wieder hungern.

Siyar Ahmad Nuri ist auf den ersten Blick ein junger Mann wie viele andere auch. Höflich, die Haare nach hinten gekämmt und das Lächeln strahlend. Er könnte glücklich sein, ist es aber nicht.

„Ich darf aufgrund der rechtlichen Bedingungen nicht arbeiten. Das ist eine Enttäuschung, ich will mein eigenes Geld verdienen“, sagt der Asylwerber.

Die Geschichte des 19-Jährigen ist abenteuerlich. Der Afghane dolmetschte für die US-Soldaten, um ein bisschen Geld zu verdienen. Grund genug für die Taliban, ihn des Hochverrats zu bezichtigen. Sie setzten ihn auf die Todesliste. Die Familie legte Geld zusammen, um den Sohn in Sicherheit zu bringen. Nach einer Odyssee über den halben Erdball erreichte er vor 16 Monaten schließlich Österreich. Ohne Geld und Sprachkenntnisse.

Wenn Siyar heute von seiner Flucht berichtet, dann tut er das auf Deutsch. Kürzlich hat er den Hauptschulabschluss absolviert. „Die Prüfung war nicht so schwierig. Aber in Chemie und Physik habe ich leider nur Dreier“, erzählt er fast beschämt.

Stefan Zimmermann vom Verein „Menschen.Leben“ in Bad Vöslau (NÖ) weiß, dass Siyar „ein Musterschüler“ ist. Heute tritt er zur HAK-Aufnahmeprüfung an. „Ich will lernen, studieren und zur UNO“, sagt der sprachgewandte Asylwerber. Noch ist nicht sicher, ob er bleiben darf. Seit 2011 hat er von den Behörden nichts mehr gehört. Entmutigen will sich Siyar nicht lassen. „Ich werde es schaffen.“ Sein Geheimnis? „Ich wollte immer lernen und ich musste schnell sein.“ Nachsatz: „Denn was hätte ich sonst anderes tun sollen?“