Der Wahltag in der grünen Hochburg Wien-Neubau
Von Martin Bernert
Sonntag, kurz vor 12 Uhr, Amtshaus Hermanngasse: Eine betagte Frau ist beim Verlassen des Wahllokals über die Treppe gestürzt und hat sich eine Platzwunde am Kopf zugezogen. Mehrere Wähler und Wahlhelfer sind zur Stelle, verbinden die Wunde der Pensionistin und warten mit ihr auf die Rettung.
Im Wahllokal selbst wirkt der Andrang größer als bei den vergangenen Urnengängen. Die Schlange reicht bis in den Vorraum, die Wähler nehmen die knapp fünfminütige Wartezeit geduldig in Kauf. „Üblicherweise flaut es über Mittag etwas ab, heute nicht“, sagt ein Wahlhelfer.
Ein Rundgang durch die grüne Hochburg Neubau – die Grünen stellen hier seit 2001 den Bezirksvorsteher – zeigt die Stimmung im Bezirk: „We're Going to Ibiza“ steht auf der Auslage eines Lokals in der Burggasse; ein Stückchen stadteinwärts hängen im beliebten „Espresso“ Plakate mit Aufrufen zur Donnerstagsdemo.
Von Ibiza bis München
Im kleinen Schanigarten sind alle Tische besetzt; einer der Gäste ist Andrija Arapovic. Er ist Kroate und lebt in Wien und München. Die vergangene Woche war er in Bayern, die Ibiza-Affäre war auch dort ein bestimmendes Thema. Ob sich die Affäre auf das Wahlergebnis auswirkt? „Ich hoffe es, habe aber meine Zweifel.“
Judth Bauer stärkt sich in einem Gastgarten am Siebensternplatz mit einem Kaffee, ehe sie wählen geht. "Ich glaube, dass es für Österreich mehr als eine normale Europawahl ist." Sie wünscht sich eine hohe Wahlbeteiligung: "Ibiza wirkt sich hoffentlich aus."
Anna T. denkt, dass sich das Ergebnis der heutigen Wahl unmittelbar und kurzfristig auf die heimische Politik auswirkt, nämlich auf den Misstrauensantrag am Montag: "Die Parteien könnten mit dem Wahlergebnis ihren Kurs rechtfertigen."
Innenpolitische Wahl
Gianni De Pellegrin war schon vor zehn Uhr wählen, jetzt steht er in seinem Eissalon in der Westbahnstraße und füllt Gefrorenes in Waffeltüten. "Bei dieser Wahl geht es mehr um Innenpolitik, das liegt auf der Hand", sagt er.
Dass sich die Ibiza-Affäre auf das Wahlergebnis auswirkt, glaubt er schon, "bei der Wahlbeteiligung bin ich mir nicht sicher".
Wie De Pellegrin ist auch Michael Rieper italienischer Staatsbürger. "Ich lebe seit 30 Jahren in Wien, habe aber bisher immer in Italien abgestimmt."
Heuer hat er sich anders entschieden, "weil die österreichischen Repräsentanten diesmal mehr Auswahl und Hoffnung bieten, als die italienischen". Rieper erwartet einen "Stimmentransfer von der FPÖ zu SPÖ und ÖVP".
"Einnert an Präsidentenwahl"
Der grüne Bezirksvorsteher Markus Reiter ortet im Bezirk eine eindeutige Stimmung: "Das erinnert mich an die Bundespräsidentenwahl 2016, als Alexander Van der Bellen in Neubau 80 Prozent der Stimmen und Norbert Hofer 20 Prozent bekam."
Die überwiegende Mehrheit wolle keinen Rechtsruck, es gebe eine hohe Bereitschaft, wählen zu gehen, sagt Reiter. "Dazu sehe den Wunsch der jungen Wähler, ein klares Zeichen gegen die Klimakrise zu setzen."